Wie viele Menschen vor mir mögen diese Worte aus Psalm 62:6 schon gelesen haben? Und wer hat sie mit Bewusstsein und innerer Anteilnahme gelesen? Ich lese sie heute als alter Mann. Und wie berühren sie mich?
Sie berühren mich auf eindringliche Weise; sie sprechen zu mir, der oft in Besorgnis und leiser Angst an die Zukunft denkt. Es gibt – leider – viel zu vieles, was mich bedroht. Es ist das Altwerden, das Nachlassen der Kraft, die zunehmende Einschränkung und der Blick auf die Verhältnisse, die mich umgeben. Aus dieser Wirklichkeit wandert der Blick gerne in eine andere Richtung. Da kommt Sehnsucht auf. Es ist die tiefe Sehnsucht nach Frieden, Geborgenheit und Nähe zu Gott.
Meine Sehnsucht nach Gott
Immer wieder stoße ich beim Lesen der Psalmen auf die Sehnsucht des Menschen nach Gott. Und ich glaube, dass diese Sehnsucht im Innersten angelegt ist, denn sie scheint mir der Urgrund für die Religiosität des Menschen zu sein. Diese Sehnsucht mag bei vielen unbestimmt sein und veranlasst sie zur tastenden Suche nach Gott. Und ist der Mensch erst einmal zur Einsicht gelangt, dass er Gott braucht, dann wird sich der Schöpfer sicher finden lassen.
In den Psalmen kommen Menschen zu Wort, die Gott schon gefunden haben. Aber niemals scheint es so zu sein, dass die Sehnsucht aufhört. Ich kann nicht feststellen, dass die Sehnsucht ein für alle Mal gestillt worden ist. Gewiss, an der Tatsache, dass Gott existiert, also IST, wird nie gezweifelt, aber die tägliche Nähe zu Gott muss der Mensch wohl immer aufs Neue suchen. Er muss sich um die kostbare Nähe zu Gott bemühen. Im Psalm 63 lese ich:
“Gott! Du bist mein Gott! Ich suche nach dir!
Nach dir hat meine Seele Durst, nach dir sehnt sich mein Körper wie in einem trockenen, erschöpften Land, wo kein Wasser mehr ist.”
Der Betende vergleicht seine Situation mit einer Wüstenwanderung. Nur so kann er ausdrücken, wie sich das Leben in einer gottfeindlichen Welt anfühlt. Deshalb sehnt er sich nach Gott in seinem Heiligtum, “um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen”.
Er macht eine erstaunliche Feststellung: “Ja, deine Gnade ist besser als Leben.” Wer so etwas sagt, hat verstanden, dass unser Leben nur ein Provisorium ist, denn immer wartet am Ende der Tod. Und unsere Lebenszeit reicht gerade aus, um mit Gott vertraut zu werden. Durch Gottes Gnade haben wir die Hoffnung auf das ewige Leben, das allein Wert besitzt. Insofern ist Gottes Gnade besser als das Leben in dieser “Wüste“, durch die jeder Pilger gehen muss.
Er dankt seinem Gott und Vater, und weil ich es ebenso empfinde, danke ich auch! Ja, ich bin glücklich durch die Erfahrung der Nähe Gottes! Auch die weiteren Worte des Psalmisten kann ich auf mich beziehen:
Nach dieser Einsicht beginnt der Betende zu jubeln:
“Meine Lippen sollen dich loben. Ich preise dich mit meinem Leben, erhebe meine Hände zu dir im Gebet. Wie bei einem Fest machst du mich satt und froh. Mit jubelnden Lippen preise ich dich.”
“In nächtlichen Stunden auf meinem Bett gehen meine Gedanken zu dir. Flüsternd sinne ich über dich nach, denn du bist mir Hilfe gewesen.
Ich juble im Schutz deiner Flügel. Ich klammere mich an dich, und deine rechte Hand hält mich fest.”
Und wie bin ich dahin gekommen? Ich habe meiner Sehnsucht Raum gegeben, ich habe Gott gesucht, und er hat sich finden lassen. Denn Gott wird von solchen Menschen gefunden, die ihrer Sehnsucht nachgeben und sich mit Gott “verbinden”, um dann sagen zu können: “Nur bei Gott bin ich zu Hause!”
Denn wenn jemand diese Gottverbundenheit nicht erfährt, nicht spürt, für den werden diese Worte nur eine Art Mantra sein, mit denen er sich in einer meditativen Stunde beruhigen möchte. Jeder beliebige Mensch kann sich diese Worte vorsagen: “Nur bei Gott wird meine Seele still!”, aber wirksam wird die Aussage nur bei denen, die genug über Gott wissen und die viele Erfahrungen mit ihm gemacht haben, die mit Gott gelebt haben. Es ist eine Tatsache, dass nur die Hilfe Gottes, sein Geist, diese Worte lebendig werden lässt. Diese Menschen zeichnet der Wille nach Gottes Gerechtigkeit und Wahrheit aus. Sie haben verstanden, dass Gott Liebe ist und mit Liebe verehrt werden will. Nur dann wissen sie, dass von Gott die Hilfe kommt, dass nur er für sie ‘ein Felsen und eine sichere Burg’ ist, wie es in Psalm 62:7 gesagt wird. In den Versen 6 bis 8 wird die Aussage wiederholt:
“Nur bei Gott wird meine Seele still, von ihm kommt meine Hoffnung. Nur er ist mein Fels, meine Rettung, meine sichere Burg. Wie sollte ich da stürzen? Bei Gott liegt mein Heil und meine Ehre. In Gott ist meine Zuflucht, er ist mein schützender Fels.”
Wer das von sich sagen kann, weiß genau, an wen er glaubt und wem er ganz und gar vertraut. Für ihn ist Gott kein “höheres Wesen”, sondern erfahrbare Realität. Er hat Gott als seinen wahren Vater erlebt! Und genau das trifft auf mich zu. Und ich weiß, dass nur dieses Erleben den Glauben auf die Stufe der Gewissheit hebt. Nun bin ich dankbar, dass ich von mir sagen kann: “Nur bei Gott wird meine Seele still”. Man hört dann endgültig auf, in Sachen des Glaubens auf Menschen zu vertrauen, denn die “Menschen sind nur ein Nebeldunst, Männer ein täuschendes Nichts.” (Vers 10)
In Philipper 4:6-9 macht der Apostel Paulus auf die Wirkung des Gebets aufmerksam:
“Macht euch keine Sorgen, sondern bringt eure Anliegen im Gebet mit Bitte und Danksagung vor Gott! Und sein Frieden, der alles menschliche Denken weit übersteigt, wird euer Innerstes und eure Gedanken beschützen, denn ihr seid ja mit Jesus Christus verbunden.”
Immer wieder erfahre ich diesen Frieden, diese beglückende Ruhe. Jedes Mal sagt mir dann meine Erfahrung, dass ich als Kind Gottes vertrauensvoll an seiner Hand gehen darf! So schaue ich zu ihm auf, freue mich und fühle mich getröstet und geborgen. In dieser kindlichen Verbindung mit Gott kann mir am Ende nichts Schlimmes passieren. Sogar der Tod verliert durch die Zusage Gottes seinen Schrecken. Denn die Gottverbundenheit erzeugt eine lebendige Hoffnung auf ein Leben in Gottes Reich. Und in diesem Reich werden alle Tränen getrocknet, jeder Schmerz zum Vergessen gebracht und alle Ursachen für Ängste beseitigt. Das ist meine Überzeugung, meine Gewissheit. Und dann ist endlich, ja endlich, die Nähe zu Gott so intensiv und überwältigend, dass man sagen muss: “Nur bei Gott ist meine Seele still!”