„Denn wir können nichts gegen die Wahrheit tun“

(In jeder religiösen Gemeinschaft gibt es Anlässe für Kritik. Gewöhnlich wird die Kritik abgewehrt und als Diffamierung oder Lüge bezeichnet. Aber wie verhält sich ein Mensch, der im Glauben an Gott leben will? Schweigt er aus Furcht und schaut einfach nur zu? Oder macht er den Mund auf? Am Beispiel der „Zeugen Jehovas“ möchte ich versuchen für mich eine Antwort zu geben.)

 

Kürzlich kam mir ein Erlebnis wieder in den Sinn, das mich damals geprägt hatte. Es ging um einen Glaubensbruder, der durch das „negative Reden“ eines anderen vor 40 Jahren die Organisation verlassen hatte. In meinem Verständnis glaubte ich, dass hier ein Mensch durch den negativen Einfluss eines anderen im Glauben Schiffbruch erlitten hätte. Und Jesu Worte aus Matthäus 18:5, 6, 10 schienen mich zu bestätigen:

„Wer aber einen von diesen Geringgeachteten zu Fall bringt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins tiefe Meer geworfen würde.“ (Vers 6)

Anlass für die Erinnerung an dieses Erlebnis war ein Nachtgespräch bei einem Glas Wein. Es ging um die Frage, was man mit seinem Wissen über die dunkle Seite der Organisation anfängt. Soll man darüber sprechen oder soll man schweigen, weil man fürchtet, jemanden „zum Straucheln zu bringen?“ An das vorher geschilderte Erlebnis denkend, stellte ich die Frage, wie Jesus sich verhalten hatte. Wir kamen darauf, dass Jesus tatsächlich Kritik an einer populären Religionsgemeinschaft geübt hatte, ohne auf seine Zuhörer Rücksicht zu nehmen! Er kritisierte nicht nur die Pharisäer (Mat. 23), sondern auch seine anderen jüdischen Zuhörer, die ihm nicht glauben wollten, weil sie Gott nicht kannten. In Johannes 8 z. B. bezeichnete er sie sogar als Kinder des Teufels! Hat Jesus hier nicht an seine eigene Warnung gedacht?

Was sich anfänglich wie ein Widerspruch anfühlt, ist in Wirklichkeit keiner. Natürlich hat Jesus durch seine Reden die Zuhörer polarisiert und manche Jünger sagten dann auch: „Was er da sagt, geht zu weit! Das kann man ja nicht anhören!“ Und dann verließen sie Jesus (Joh. 6:66). Haben diese Menschen den Glauben verloren? Sind sie durch Jesus zum Straucheln gebracht worden?

Man kann nur etwas verlieren, was man besitzt! Über die weggehenden Jünger sagte Jesus: „Allerdings gibt es einige unter euch, die glauben trotzdem nicht.“ (Joh. 6:64) Also hat sie Jesus im Glauben gar nicht zu Fall gebracht! Er hat nur ihren Unglauben offenbart und darum verließen sie ihn.

Die Pharisäer und Schriftgelehrten brachten Menschen im Glauben zu Fall

Von den Pharisäern sagte Jesus nach Matthäus 23:15:

„Weh euch, ihr Gesetzeslehrer und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr reist über Land und Meer, um einen einzigen Menschen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn ihr ihn gewonnen habt, dann macht ihr ihn zu einem Anwärter für die Vernichtung, der doppelt so schlimm ist wie ihr.“

An dieser Stelle sei die Frage erlaubt: Wer bringt wen zu Fall?  Wer sorgte durch seine falschen, der Bibel widersprechenden Lehren dafür, dass Menschen im Glauben strauchelten? Sind diese Menschen durch Jesu Kritik zu Fall gekommen oder durch die Lehren der jüdischen Religionsführer, die Jesus falsch darstellten und ihn ablehnten? Hat Jesu Kritik dazu geführt, dass die falsch Belehrten auch falsch handelten und Gott missachteten oder waren es die Urheber der falschen Lehren, die Pharisäer und die Schriftgelehrten?

Es wird leicht übersehen, dass Jesus auch in der Offenbarung Kritik am Verhalten seiner heutigen Nachfolger übt! In den sieben Briefen an seine Nachfolger fordert er klar und deutlich Änderungen am Verhalten. Das mag das Argument entkräften, das mitunter gebraucht wird, wenn Missstände bekannt werden: „Da warten wir einfach auf Jehova, er wird das zu seiner Zeit ändern!“ Dem widerspricht Jesus. Nicht „etwas“ muss sich ändern, sondern der Kritisierte muss sich ändern. Was ein Mensch selbst tun kann, wird ihm von Gott nicht abgenommen. Man kann berechtigte Kritik nicht mit dem Hinweis auf Gott abwenden und schweigen und abwarten! Der Prophet drückte es so aus: „Zerreißt euer Herz und nicht eure Kleider!“

Jeder trägt die Verantwortung für seinen Glauben selbst

In der Bergpredigt weist Jesus am Schluss darauf hin, dass jeder eine große Verantwortung trägt, wenn er sein „Glaubenshaus“ baut:

„Darum gleicht jeder, der auf meine Worte hört und sie tut, … einem klugen Mann, der sein Haus auf felsigen Grund baut. Wenn dann ein Wolkenbruch niedergeht und die Wassermassen heranfluten, wenn der Sturm tobt und an dem Haus rüttelt, stürzt es nicht ein, denn es ist auf den Felsen gegründet. Doch wer meine Worte hört und nicht danach handelt, gleicht einem unvernünftigen Mann, der sein Haus einfach auf  den Sand setzt. Wenn dann ein Wolkenbruch niedergeht, und die Wassermassen heranfluten, wenn der Sturm tobt und an dem Haus rüttelt, bricht es zusammen und wird völlig zerstört.“ (Mat. 7:24-27)

Diese Verantwortung wird keinem Gläubigen abgenommen! Jeder muss sein Gewissen und die Worte Gottes und seinen Geist auf sich einwirken lassen. Und was sich hier so einfach liest, ist in Wirklichkeit schwierig zu befolgen, weil eine ganze Welt dagegen steht! Und nicht nur eine ganze Welt, sondern auch wir selbst können dem entgegenstehen, wenn es uns an innerer Wahrhaftigkeit und Gottesfurcht fehlt, wenn wir Menschen überbewerten und auf ihre täuschenden schönen Worte hereinfallen. Dann kann man zu Fall kommen.

Was kommt zu Fall?

Das ist zuerst ein Glaubensbau, der auf Sand gebaut war. Günstigenfalls verliert man eine „nette Gemeinschaft“; man trennt sich von einer Religionsgemeinschaft. Damit muss noch kein Verlust des Glaubens gemeint sein. Wer ein festes Vertrauen zu Gott hatte, muss es durch den „Einsturz“ nicht unbedingt verlieren. Er hat die gute Möglichkeit sich neu zu orientieren und sein Verhältnis zu Gott neu zu festigen. Genaugenommen ist er nicht zum Straucheln gebracht worden. Gestrauchelt ist die Lüge, die Täuschung, die falsche Überzeugung, aber nicht die Wahrheit!

Anders ist es, wenn jemand gar kein persönliches Vertrauen zu Gott besaß, wenn er nur in einer Religion war und deren falschen Lehren mehr Vertrauen schenkte als den Worten Jesu. Dann war er nur ein Mitglied, das seine Identität von dieser Gruppe herleitete und nicht unbedingt aus dem persönlichen Glauben an einen allmächtigen Gott und Vater im Himmel, also aus einer persönlichen, intimen Beziehung zu Gott. Dann kann es sein, dass er sich enttäuscht von seiner Gemeinschaft zurückzieht, über die verlassenen Gemeinschaft schimpft und sich endlos beklagt. Aber was hat er in Wirklichkeit verloren? Er hat eine trügerische Illusion verloren; er hat etwas verloren, was er als Glaubensersatz hatte. Hat er etwas verloren, was ihm angenehm war, weil es seinen persönlichen Vorlieben und Vorstellungen entsprach?

Soll man schweigen, wenn es um die Wahrheit geht?

Die Wahrheit kann Leben retten! Wer sie aus falscher Rücksichtnahme verschweigt, kann schuldig werden! Wer nicht hilft, wo er helfen kann, zeigt keine Liebe. Er kann ebenso schuldig werden, wie ein Lehrer, der falsch belehrt und seine Schüler zu falschem Denken und Handeln erzieht. Wie verstehen wir die Aufforderung der Apostel?

„Liebe Geschwister, wenn jemand von euch in eine Sünde hineinstolpert, dann müsst ihr, als vom Geist bestimmte Menschen, ihn verständnisvoll auf den rechten Weg zurückbringen.“ (Gal. 6:1)

„Wenn jemand sieht, dass sein Bruder oder seine Schwester sündigt,… dann soll er für sie bitten und Gott wird ihnen das Leben geben.“ (1. Joh. 5:16) 

„Wenn jemand unter euch von der Wahrheit abirrt, meine Brüder, und einer bringt ihn zur Umkehr, dann denkt daran: Wer einen Sünder von seinem falschen Weg zurückbringt, wird dessen Seele vom Tod retten und eine Menge von Sünden zudecken.“ (Jak. 5:19, 20)

Wie kann man diese Anweisungen beachten, wenn man schweigt? Wie erfüllt man das Gebot der geschwisterlichen Liebe, wenn man aus Sorge um die Reaktion des Betreffenden nichts sagt und ihn in seinem Irrtum belässt und zusieht, wie er weiter auf dem falschen Weg geht? Wie befolgt man die Worte des Jakobus, jemanden, der vom Weg der Wahrheit abgeirrt ist, zur Umkehr zu bringen, wenn man nur schweigend zusieht? Wie hart muss das Herz sein oder wie groß muss die Feigheit sein, wenn man ruhig zusehen kann, wie der Betreffende seinen Weg des Irrtums fortsetzt und zu Schaden kommt?

Wovor fürchtet man sich?

Was und wen fürchtet jemand, der über die Schattenseite einer religiösen Organisation Bescheid weiß und dieses Wissen für sich behält? Kann er mit diesem Wissen vor seinem Gewissen und vor Gott bestehen? Ja, wovor fürchtet er sich? Wenn er sich vor den Führern und den Konsequenzen fürchtet, dann ist man in Menschenfurcht gefangen und feige. Fürchtet er den Verlust eines Amtes, des Ansehens und der Autorität? Fürchtet er sich davor, Menschen zu verlieren, die sich als seine Brüder bezeichneten und doch die Organisation mehr liebten als ihren Erlöser?

Ich konnte diesen Fragen nicht ausweichen. Ich wollte nicht mehr feige sein. Darum habe ich geredet und die Konsequenzen  auf mich genommen. Als ich im privaten Kreis über die Nachtseite der Organisation sprach, hatte ich bald Besuch von den Ältesten der Versammlung. Meine Kritik an den moralischen Missständen konnte ich gut begründen, so dass sie selbst nachprüfen konnten. Sie sagten dann: „Dagegen können wir nichts sagen. Aber sprich bitte nicht darüber!“.

Ich habe doch darüber gesprochen und es entstand Unruhe. Da wurde ich zur Komiteeverhandlung eingeladen. Am Abend vorher kam ein Ältester heimlich zu mir und wollte mich dazu überreden klein beizugeben. Er wollte mich schützen und meine Exkommunikation verhindern. Als ich ihn fragte, ob er diesen Rat auch dem Stephanus gegeben hätte, der auch angeklagt worden war, weil er den Mund eben nicht gehalten hatte. Er hatte die damalige jüdische Religionsgemeinschaft kritisiert (Apg. 6 u. 7) und ist als Märtyrer gestorben. Da traten ihm die Tränen in die Augen und er verließ mich still. Hat er irgendetwas verstanden? Aber darum geht es ja nicht. Es ging ja um mich und um meine innere Wahrhaftigkeit und um mein Gewissen.

Ich war immer davon überzeugt, dass die Worte Pauli aus 2. Kor. 13:8 wahr sind:

„Denn wir können nichts gegen die Wahrheit tun, sondern uns immer nur für sie einsetzen.“

Wie die Zeugen mit anderen sprechen

Die „Zeugen Jehovas“ sprechen mit Menschen anderer Religionsgemeinschaften und versuchen sie über die Schattenseiten und falschen Lehren ihrer Gemeinschaft aufzuklären. Und bei ihrer Argumentation sind sie geradlinig und nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie stellen die Machenschaften der religiösen Führer bloß und denken überhaupt nicht daran, dass „sie jemanden zum Straucheln veranlassen könnten“. Sie sehen die Angelegenheit durchaus richtig und benutzen dieselben biblischen Argumente wie ich. Und sie fordern ihre Gesprächspartner zum Verlassen ihrer Religionsgemeinschaft auf.

Aber wenn es um sie selbst geht, dann sind sie ganz anders, dann werden ihre Kritiker aus den eigenen Reihen exkommuniziert. Wenn es um sie selbst geht, werden die Augen verschlossen, dann hört man gar nicht erst hin und wertet alles als Lüge und Verleumdung ab. Dann erkennt man deutlich, dass sie ebenso unaufrichtig sind, wie andere auch. Äussert sich so die Liebe zur Wahrheit?

Veröffentlicht von Tilo

Ein alter Mann, der lange Zeit ein Zeuge Jehovas war und dieser Kirche aus Gewissensgründen den Rücken kehrte. Heute stehe ich allen Kirchen misstrauisch gegenüber, denn glauben kann man nur allein. (amenuensor@aol.com)

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