Geht es mir gut? Danach werde ich oft gefragt, und ich kann nicht immer so antworten, wie es mir zumute ist. Auf der einen Seite lebe ich mein Glaubensleben unbehelligt, ohne Spott und Verfolgung. Materielle Sorgen habe ich nicht und die Gesundheit ist gut. Es gibt Menschen, in deren Herzen ich einen Platz habe und ich kann mich immer noch an kleinen Dingen freuen. Ich trinke meinen Wein mit frohem Herzen und habe große Freude am Lesen in der Bibel; ich habe „Wonne an Jehowah“ (Ps. 37:4).
Und trotzdem geht es mir zeitweilig schlecht. Was ist das? Es ist das Leiden an der Zeit! Ich kenne kein Lebensalter, in dem ich nicht litt. Ich trage die Wunden der Zeit:
Durch alle Alter geschritten,
als Kind, als Mann und als Greis,
und immer am Leben gelitten
ward mir die Welt zu Eis.
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Nicht stehen, nicht halten, kein Bleiben.
Abschied, Verlust und Verwehen,
ein ständiges Vorwärtstreiben,
viele Fragen und kein Verstehen.
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Es ist die Vergeblichkeit und die Vergänglichkeit des Lebens. Aber es ist noch mehr. Es ist die Zudringlichkeit der unmenschlichen Geschehnisse, es sind die vielen Bilder des Unheils, die mich niederdrücken. Ich kann manches nicht anschauen, ohne dass mir die Tränen laufen. Das macht mich schwermütig und ernst. Es raubt mir zu oft die Freude am Leben. Im 42. Psalm finde ich meine Stimmung wieder: „Warum bist du so verwirrt, meine Seele, was stöhnst du in mir?“.
Verträgt sich das mit dem Glauben? Sollte der Glaube nicht dazu führen, sich froh und glücklich zu fühlen? Aber wie kommt es, dass man z. B. in den Psalmen so oft von Kummer, Verzweiflung, Schmerz, von Tränen, Schreien und Flehen liest? Das haben doch Glaubensmenschen geschrieben. Oder wie ist es mit den Propheten, mit Jeremia und anderen? Da finde ich dasselbe wieder. Und ich stelle fest: Wenn es um die Frage geht, wie sich Glaube anfühlt, dann kommt man an einer bestimmten Tatsache nicht vorbei: Auch ein gläubiger Mensch leidet an den Verhältnissen seiner Zeit!
Jeremias innere Not
Der Prophet hat seine innere Not offengelegt. In seinen Gebeten spricht er darüber:
„Du bist gerecht, Jehowah, wie könnte ich nur mit dir streiten. Dennoch muss ich über das Recht mit dir reden. Warum haben die Bösen Erfolg? Weshalb können Abtrünnige sorglos sein. Du hast sie gepflanzt, und sie haben Wurzel geschlagen; sie wachsen heran und bringen Frucht. Doch nur in ihrem Reden bist du nah, in ihrem Gewissen aber fern.“ (Jer.12:1, 2)
„Weh Mutter, dass du mich geboren hast! Jeder streitet und zankt mit mir, das ganze Land feindet mich an! Ich habe weder Geld verliehen, noch habe ich welches geborgt. Trotzdem verfluchen mich alle.“ (Jer. 15:10)
„Warum hört mein Schmerz nicht auf? Warum schließt sich meine Wunde nicht? Warum will sie nicht heilen?“ (Jer. 15:18)
Schaut man auf sein Leben, dann wird rasch deutlich, worunter der Prophet gelitten hat. Er wurde nicht nur angefeindet, er wurde auch misshandelt, und es gab Mordpläne der Männer von Anatot, von den Priestern, dem König und seinen Ratgebern. Als Mensch war er so gut wie geächtet. Er musste das Leben eines Außenseiters führen. Das war der Preis für sein Prophetenamt, die Begleiterscheinung seines Glaubens.
In seiner Klage vor seinem Gott wird Jeremia von Schmerz und Verzweiflung fortgerissen. Er vergisst sich, wenn er sagt:
„Jehowah, du weißt alles, denkt an mich und setze dich für mich ein! Nimm Rache für mich an meinen Verfolgern! Nicht dass deine Langmut mich zugrunde gehen lässt!“ (Jer. 15:15)
„Du hast mich enttäuscht, du bist für mich wie ein Bach, der im Sommer versiegt.“ (Jer.15:18)
Gottes Antwort
Gott antwortete mehrmals auf seine Klagen. Er antwortet maßvoll und gerecht. Zuerst stellt er Fragen, die auch ich mir stellen muss:
„Wenn du mit Fußgängern läufst, und sie dich schon ermüden, wie willst du den Lauf gegen Pferde bestehen? Wenn du dich nur im Land des Friedens sicher fühlst, wie wirst du dich dann im Jordandickicht verhalten?“ (Jer. 12:5)
Ich darf in dieser Welt nicht erwarten, „im Land des Friedens“ zu leben. Ich kann nicht erwarten, mich im „Jordandickicht“ sicher zu fühlen. Ich muss bereit sein, Schwierigkeiten zu ertragen! Ich muss die Tatsache realisieren, dass ich als Schaf unter Wölfen leben muss! Und ich muss einsehen, dass ich in meinem Glauben an Schwierigkeiten wachsen muss. Ich lerne am Leben! So war es auch bei Paulus:
„Von allen Seiten werden wir bedrängt, sind aber nicht erdrückt; wir sind oft ratlos, aber nicht verzweifelt, wir werden verfolgt, aber nicht verlassen, wir werden niedergestreckt, gehen aber nicht zugrunde.“ (2. Kor. 4:8, 9)
Es ist eine erschütternde Erfahrung, wenn man feststellt, dass man auch in Verfolgung und Bedrängnis nicht allein ist, sondern siegreich ist durch die Kraft, die Gott gibt. Mit dieser Kraft können Christen diese Welt besiegen: „Denn jeder, der aus Gott geboren ist, siegt über die Welt; er besiegt sie durch den Glauben“ (1. Joh. 5:4).
Zu Jeremia sagte Gott:
„Habe ich dich nicht zum Guten stark gemacht? … Dann mache ich dich für dieses Volk zu festen eisernen Mauer. Sie werden dich bekämpfen – doch ohne Erfolg, denn ich bin bei dir und werde dich retten. Ich schütze dich, ich, Jehowah. Ich rette dich aus der Hand der Bösen, aus brutalen Fäusten befreie ich dich.“ (Jer. 15:11, 20, 21)
„Nicht dass deine Langmut mich zugrunde gehen lässt!“
Wir wissen, dass lang hinausgeschobene Hoffnung das Herz krank machen kann. Menschen sind zeitlich so begrenzt, dass sie leicht ungeduldig werden können. Und es fällt uns bei steigendem Druck von außen schwer, auf Gott zu warten. Aber wir müssen Geduld haben; Gottes Wort wird sich immer erfüllen! Jeremia musste nicht nur die Bestrafung der Bösen ankündigen, sondern auch Hoffnung vermitteln. Er durfte als Prophet den Messias „sehen“, durfte von seiner Friedensherrschaft reden und von einem neuen Bund, unter dem alles neu gemacht werden würde, weil die Menschen dann endlich Gottes Gesetz im Herzen tragen würden und ihre Schulden alle vergeben sind. Er durfte sehen, wie Gott in der Zukunft allen Menschen alles wird.
Damit hat Gott ihn gestärkt. Und nicht nur damit! Er wurde aus brutalen Fäusten befreit, sein Leben wurde gerettet, und Gott hatte ihn stark gemacht und ihm die innere Kraft verliehen, für seine Feinde eine starke eiserne Mauer zu werden. Aber die Vorwürfe des Propheten hat er zurückgewiesen, wenn er sagte: „Wenn du umkehrst, nehme ich dich wieder an, dann darfst du mir wieder dienen. Wenn du deine Worte überlegst, und nicht mehr solchen Unsinn von dir gibst, dann darfst du wieder mein Mund sein.“ (Jer. 15:19)
Es ist nicht schwer, sich in den Vorwürfen Jeremias wiederzufinden. Aber es sind unüberlegte Worte, die aus dem Schmerz geboren werden können. Sie sind zutiefst menschlich, und ich finde einen ähnlichen Gedanken auch bei Johannes (dem Täufer) im Gefängnis, als er Jesus fragen ließ, ob er der Messias sei. Die Antwort Jesu ist eindeutig und endet mit dem Satz: „Und glücklich ist der zu nennen, der nicht an mir irre wird!“. Darüber habe ich nachgedacht und mir gesagt, dass zum Glauben auch die Geduld gehört. Ich musste mir deutlich machen, dass Gott nicht ungerecht ist, dass er nichts Ungereimtes oder Unsinniges tut. Am Ende lief es auf die Einsicht hinaus, dass ich nicht alles verstehen kann und muss, dass ich aber vertrauen darf! So blicke ich auf ein erfülltes Leben zurück und fühle mich verstanden und angenommen:
So sind die Jahre verschwunden,
die Träume, das Leben – und du?
Du hast dich zerschlissen, zerschunden
und sehnst dich nach friedlicher Ruh.
–
Am Ende sind keine Fragen,
nur Wünsche bewegen dich noch.
Du hast eine Antwort gefunden
und weißt: Die Hoffnung lebt doch!
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Zu bleiben als „Staub“ an den Füßen,
des Einen, der mich gemacht.
Es ist der Wunsch zu fühlen
die Nähe bei Tag und bei Nacht.
–
Auf den Wassern des Lebens
Das Leben hat mir viel gebracht. Da waren Stürme, Unwetter und kleine Katastrophen. Auch in den kommenden Jahren werden die Stürme der Zeit nicht aufhören: Ich sitze im Boot. Der Steuermann ist Jesus Christus. Und anders als die Apostel weiß ich heute, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Jesus beschwichtigt die bedrohlichen Stürme und das aufgewühlte Meer. Jesus ist mein Bruder im Himmel und hat von unserem himmlischen Vater so viel Macht und Weisheit erhalten, dass ich ruhig und vertrauensvoll sein kann. Durch alle Stürme auf dem unruhigen Meer des Lebens wird er mich sicher hindurchbringen. Er wird mich in den sicheren Hafen führen. Da bin ich geborgen! Da bin ich gerettet!
– Gedanken zum Psalm 107:23-32
Auf den Wassern des Lebens
ließest du mich nie allein.
In den Stürmen des Lebens
war ich immer nur dein.
–
Über der furchtbaren Tiefe
vergingen mir Rat und Verstand.
Vor dem Abgrund der Angst
reichtest du mir die Hand.
–
Unter dem Schatten des Todes
tröstest du mich hinweg.
In den Hafen der Hoffnung
zeigtest du mir den Weg.
–
Im Angesicht deiner Liebe
wird Stammeln mein Gebet.
Denn alle Worte versagen,
wenn es um dich geht.
–
Mein Gott und mein Vater im Himmel!
Ich schenke dir mein Gefühl!
Eins sein mit deiner Liebe
ist alles, was ich will.
–
Denn du allein bist Jehowah
für alle Ewigkeit!
Und deine Liebe wird trotzen
den Stürmen der wirren Zeit!