Ein Wort stirbt

Demut ist ein Wort, das auszusterben scheint. Es verschwindet aus dem Wortschatz und damit stirbt auch seine Bedeutung. Manchmal taucht es noch in religiösen Predigten auf, aber in der breiten Öffentlichkeit hat es kaum noch Bedeutung. In manchen Formen des religiösen Dienens steht oder stand eher die Demütigung im Vordergrund und nicht das gegenseitige Dienen, wie es unter freien Menschen sein kann. Man erinnere sich an Demutsübungen z. B. bei den Jesuiten, die dazu dienen sollten, den eigenen Willen zu brechen und einen Kadavergehorsam zu erzeugen. Das passt weder zur Bibel noch zur Liebe Gottes.

Demut hat den Geruch der Schwäche bekommen. Und Schwäche passt nicht in eine Zeit, die kaum noch gegenseitige Rücksichtnahme kennt, wo der Nächste zur Rechengröße im Wirtschaftbereich verkommt. Man mag keine „weichen“ Männer. Man mag den „Surfer“, jenen harten Typ, der auf seinem Surfbrett durch die Brandung des Lebens saust und der nur Blick und Sinn für die eigene Position hat. Gedanken an andere, die sich auch auf den Wassern des Lebens abmühen, schaden nur der eigenen Sicherheit. Ein Blick auf den Nächsten zur Unzeit könnte den Sturz vom Brett bedeuten. Also heißt die Devise: „Immer schön oben bleiben! Auf die Welle achten, die einen trägt! Den anderen ausblenden! Nur nicht helfen wollen, sonst fällst du selbst vom Brett!“ Es ist klar, dass Erfolgsmenschen, die so denken und fühlen, keine Gedanken an Demut verschwenden können, denn Demut hat den Nächsten im Blick, weil sie ihn als Nächsten sieht und sich selbst als  Mitverbundenen.

Demut und die Größe Gottes

Nun lese ich im Psalm 18:36b die Worte Davids: „Und deine Demut macht mich groß!“  Das sagte er von seinem Gott und Vater im Himmel! David hat die ihm erwiesene Gnade zu schätzen gewusst, und er war sich klar darüber, dass Gott dazu nicht verpflichtet war. Er hat auch genau gewusst, dass ihm von Gott Barmherzigkeit erwiesen worden war, als er eine große Sünde begangen hatte. Ihm wurde vergeben, und auf diese Weise konnte er vor Gott mit einem guten Gewissen leben. Das machte ihn groß. Er erlebte, dass er mit Würde behandelt worden war, dass Gottes Demut ihn erhöhte und dass er eben nicht durch Entwürdigung abwertet wurde. Gottes sanfte Art führte ihn zu einer wichtigen Einsicht, und Gott brachte ihn so durch Liebe wieder auf den rechten Weg zurück. Und wir bemerken erstaunt, dass  der allmächtige Gott den Glaubenden, den Vertrauenden, mit viel Respekt und Liebe behandelt. Nationen mögen für Gott wie ein Tropfen am Eimer sein, aber ein Mensch, der ihm vertraut, ist für ihn kostbar. Durch diese Haltung erweist sich Gott als wahrhaft groß, denn sie entspricht seiner Liebe und seiner Gerechtigkeit.

Und ich muss hier an Hiob denken. Die Geschichte Hiobs setze ich als bekannt voraus. Im Bericht über sein Leiden sehen wir in Hiob einen Menschen, der die Welt nicht mehr versteht. Er begreift nicht, warum er soviel Unglück erleben muss. Seine Bekannten versuchen ihm eine verborgene Sünde einzureden, für die ihn Gott angeblich bestraft. Aber Hiob hat ein reines Gewissen, und in seinem verzweifelten Versuch, sich zu rechtfertigen, macht er Gott harte Vorwürfe. Seine Anklagen gegen Gott sind gewaltig. Sie entspringen einem starken Gerechtigkeitsgefühl, übersehen aber eine wichtige Tatsache: Er kennt den Hintergrund nicht; er weiß nicht, warum soviel Unglück über ihn gekommen ist. So ist seine Anklage ohne sicheres Fundament, weil er den wahren Urheber seiner Leiden nicht weiß. Er bildet sich ein, dass es Gott sei.

Und wie reagiert Gott darauf? Jedenfalls trifft Hiob kein Blitz wegen seiner ungerechten Anklagen, sondern Gott spricht aus dem Sturm mit ihm. Und indem Gott über seine Tätigkeit als Schöpfer spricht, macht er unmerklich seinem Ankläger Hiob deutlich, dass er sich um alles kümmert, dass er alles im Blick hat und für alles gesorgt hat. Hiob hat aufmerksam zugehört und er könnte sich gesagt haben: „Wenn das so ist, dann kann ich meinem Gott nicht vorwerfen, dass ich Luft für ihn bin! Dann hat er ja auch mich im Blick! Dann kann es ihm nicht gleichgültig sein, was mit mir geschieht. Aber ich verstehe das Ganze nicht. Was kann ich tun?“

Und aus dem sich im Recht wähnenden Hiob wird ein demütiger Mann, der seine Hand auf den Mund legt, seine harten Worte bedauert und sein Herz vor Gott beugt. Und er fasst seine Einsicht in wenige Worte: „Schau, ich bin zu gering. Was soll ich erwidern? Ich lege die Hand auf den Mund. … Vom Hörensagen habe ich von dir gehört, doch nun hat mein Auge dich erblickt. Ich bereue in Staub und Asche!“ (Hiob 40:3, 4; 41:5, 6) Was hat Hiob gesehen? Nicht die Gestalt Gottes, sondern eine wichtige Seite seines Wesens. Und die könnte so aussehen: Auch wenn ein Mensch nichts versteht, darf er doch immer seinem Gott und Schöpfer vertrauen. Er darf sicher sein, dass der Allmächtige Liebe ist! Er darf sich, gleichgültig was ihn im Leben trifft, sicher sein, dass er nicht allein ist und dass Gott die einzige Sicherheit seines Lebens ist und bleibt:

„Mit deinem Rat leitest du mich und nimmst mich am Ende in Ehren auf. Wen habe ich im Himmel außer dir? Und neben dir wünsche ich mir nichts auf der Erde. Auch wenn ich Leib und Leben verliere, bleibt Gott doch mein Anteil für immer.“ (Ps. 73:24-26)

Am Beispiel Hiobs wird noch eine weitere Seite des Wesens Gottes deutlich: Es ist das, was der Prophet Jesaja beschrieben hat:

„Ich wohne in der Höhe, in unnahbarer Heiligkeit, doch bin ich auch den Zerschlagenen nah, deren Geist niedergedrückt ist, und belebe den Geist der Gedemütigten neu, richte das Herz der Zerschlagenen auf.“ (Jes. 57:15)

Gerade das hat Hiob erlebt. Und das hat sich an unzähligen Menschen erfüllt, die in den Stürmen des Lebens auf Gott gehofft und gewartet haben, und für die ihr Gott im Himmel der Mittelpunkt ihres Glaubens war. Sie haben sich Gott unterworfen, suchten seine Gerechtigkeit, seine Barmherzigkeit und seine Liebe. Es war immer so, wie es im Psalm 25:9 heißt: „Den Demütigen zeigt er, was richtig ist, und lehrt sie seinen Weg zu erkennen.“

Auch das haben Hiob und andere erlebt: Gott teilt sich ihnen mit. Mit Abraham verhandelte er z. B. über die Zahl der Gerechten in Sodom. Er hörte sich Abrahams Meinung an und respektierte sie. Ähnlich ging es Lot. Als Lot durch Engel aus Sodom herausgeführt wurde, und er merkte, dass der Weg für ihn aufgrund seines Alters nicht zu schaffen war, bat er darum in eine in der Nähe liegende Stadt gehen zu dürfen. Und das wurde ihm gestattet. Die Demut Gottes lässt es also zu, mit Menschen einen Dialog zu führen, auf ihre Anliegen einzugehen und ihre Gefühle zu achten, denn dafür interessiert er sich. In seiner Demut lässt er seinem menschlichen Gegenüber Raum; Er erdrückt sie nicht durch seine unermessliche Autorität! Und gerade das macht das Wesen unseres Vaters im Himmel aus!

Und noch etwas fällt uns auf: Gott ist nicht willkürlich in seinen Entscheidungen. Er lehrt die Menschen seinen Weg zu erkennen. Das geschieht auf verschiedene Weise; es geschieht durch Gottes Liebe, durch sein Wort in der Bibel, durch den heiligen Geist, der Einsichten gibt, durch Jesus Christus, der über seine Schafe wacht und durch helfende Menschen, die uns lieben. Wenn Gott den Menschen seinen Weg lehrt, dann geht es nicht um ein theologisches Lehrgebäude, das sich Menschen ausgedacht haben, sondern um die klaren, einfachen Grundlagen seiner Gerechtigkeit, also seiner Moralität. Gottes Weg und Wesen ist die Liebe, die das Glück des Menschen zum Ziel hat! Und Gottes Demut führt dazu, dass seine Liebe in uns zum Ziel kommt.

Und wie ist es mit der Demut in den christlichen Religionen?

Von der Antwort auf diese Frage hängt ab, wie viel Christentum in der jeweiligen Religionsgemeinschaft steckt. Und wie viel ist es? Wie viel soll es sein? Ich gehe zurück zum Begründer des Christentums. Der König der Könige sagte von sich:  „Ich bin mildgesinnt und von Herzen demütig!“ (Mat. 11:29)

Und beim Lesen der Evangelien wird genau das deutlich. Wir erleben einen Jesus, der sich nicht selbst erhöhte, der sich nicht um jeden Preis durchsetzte, sondern den Nächsten, den Bruder, im Blick hatte, der viel Mitgefühl aufbrachte, das sich bis zum Mitleid steigern konnte. Er war für Menschen da, die sich wie Schafe im Leben verirrt hatten. Er war der aufopferungsvolle Helfer, Heiler, Tröster und Vollender des persönlichen Glaubens. Er war das wärmende Feuer, zu dem die Menschen sich hingezogen fühlten. Von ihm heißt es, dass er gehorsam bis zum Tode war und sich für das Leben der Menschen geopfert hatte. Hier auf der Erde wurde er von denen verachtet, die in der Religion das Sagen hatten, denn er zeigte ihnen, was es eigentlich heißt an Gott zu glauben. Für ihn war Glauben keine leere rituelle Handlung in einer institutionalisierten Religion, sondern die Tat der Liebe in Wahrheit und Gerechtigkeit. Den religiösen Führern im Judentum musste er sagen:

„Ich bin nicht darauf aus, von euch geehrt zu werden, weil ich weiß, dass ihr Gottes Liebe nicht in euch habt.“ (Joh. 5:41)

Das war ihr Problem, sie liebten die Ehre von irgendwelchen Menschen mehr als die Anerkennung Gottes. Sie waren stolz und bildeten sich viel auf sich selbst ein, was immer ein Mangel an Demut ist. Auf ihre Schäfchen sahen sie von oben herab und behandelten sie als Unmündige. Jesus war ihnen ein Dorn im Fleisch, denn er war von Herzen demütig! Das war kein Theater für die Massen, das war gelebte Demut! Und das ist derjenige, dem alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben worden ist! Er war sich nie zu schade, demütig zu sein. Nein, Demut war die Voraussetzung für seine Liebe zu den Menschen: Sie ist die Tugend eines Königs!

Soll man die christlichen Religionen an Jesus messen? Man muss sie an ihn messen, denn von seinen Nachfolgern fordert er nicht weniger! Kurz vor seinem Tod machte er seinen Aposteln deutlich, was er unter Demut verstand: Er wusch ihnen die Füße. Nach der Fußwaschung sagte er:

„Wenn nun ich, der Herr und der Lehrer, euch die Füße gewaschen habe, dann seid auch ihr verpflichtet, euch gegenseitig die Füße zu waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit ihr genauso handelt. Ja, ich versichere euch: Ein Diener ist nicht größer als sein Herr und ein Gesandter nicht größer als sein Auftraggeber. Das wisst ihr jetzt. Nun handelt auch danach, denn das ist er Weg zum wahren Glück“.

Diese Fußwaschung wird heute noch von politischen und religiösen Führern zu Propagandazwecken benutzt. Was davon zu halten ist, braucht für die, die Gott kennen und Jesus Christus nachfolgen nicht erläutert zu werden. Doch es bleibt die Frage: Wie viel Demut ist in den christlichen Gemeinschaften zu finden? Meine rein persönliche Antwort lautet so: Ich finde sie in einzelnen Menschen, aber nicht im Apparat, nicht in den Hierarchien und nicht in der Masse der Gläubigen. Denn wäre es anders, dann müssten die christlichen Religionen ein besseres Bild bieten.

Demut und die Armut vor Gott

In der Bergpredigt Jesu finden sich viele Anklänge an die Demut. Die meisten Glücklichpreisungen haben direkt und indirekt mit Demut zu tun, denn um sie auszuleben und zu erleben ist Demut die Voraussetzung. Und so bringt die erste Glücklichpreisung genau das zum Ausdruck:

„Wie glücklich sind, die anerkennen, wie arm sie vor Gott sind! Ihnen gehört das Reich, das der Himmel regiert“. (Mat. 5:3)

Das also sind die Erben des Reiches Gottes! Warum gerade sie? Dazu muss man über Jesu Worte nachdenken und sich fragen was es bedeuten könnte, seine Armut vor Gott einzusehen. Es werden jene „Armen“ sein, die zur Einsicht ihres Lebens gekommen sind und irgendwie gemerkt haben, dass sie Gott wirklich brauchen, weil sie auf ihrem Weg vergessen haben, wie man liebt, lebt und hofft, die von der Ahnung überwältigt worden sind, dass sie so, wie bisher nicht mehr weiterleben können – und wollen.

Um von Gott gekannt zu werden muss sich ein Mensch vor ihm „klein“, also „arm“ machen. Wer Gott nicht kennt, wird auch von ihm nicht gekannt. Und das hat eine böse Folge: Über die Juden, die ständig gegen Gott und sich selbst lebten, sagt Psalm 78:33: „Da nahm er ihrem Leben den Sinn und ließ ihre Jahre in Schrecken vergehen“. Und auf wen schaut Gott? Er schaut auf den Demütigen und auf den, der „vor seinem Wort zittert“ (Jes. 66:2).

Gott als seinen persönlichen Gott zu sehen, bedeutet zuerst einzusehen, dass man selbst sein Geschöpf ist, das er mit der Absicht geschaffen hat, ein menschliches „Gegenüber“ zu haben. Gott möchte mit dem Menschen durch das Band der Liebe verbunden sein. Wer Gott nicht kennt, kann ihn auch nicht lieben, und die Liebe ist dann nicht das Band, das einen Menschen mit Gott verbindet. Erst durch die Liebe wird das menschliche Geschöpf zum wahren Menschen.  Um aber das einzusehen, ist Demut nötig.

Die Armut vor Gott ist auch die Einsicht in die menschliche Natur, die ihre bestimmten Grenzen hat. Wir wissen nicht genug, wir sind in vielen Dingen machtlos, oft ratlos und ohne Orientierung. Uns ist die eigene Vergänglichkeit bewusst, aber gleichzeitig tragen wir die „ewige Zeit“ im Herzen. Wir sind von der Sehnsucht nach ewigem und sinnvollem Leben beseelt und leiden unter der Gewissheit der eigenen Vergänglichkeit. Der Prediger sagte wiederholt: „Alles ist vergeblich und ein Haschen nach Wind!“ Das ist der rote Faden, der dieses Bibelbuch durchzieht; alles steht unter dem Bann der Vergänglichkeit, die im Ergebnis alles, ja alles, sinnlos macht. Und der Prediger kommt zu dem Ergebnis: „Fürchte den wahren Gott und halte seine Gebote, denn das ist des Menschen ganze Pflicht“. Und das ist auch der einzige Ausweg aus unserem Dilemma.

Und noch einen Aspekt der Armut vor Gott möchte ich ansprechen: Wir sind alle auf demselben Weg in das Vergessen. Wir werden sterben, weil wir Sünder sind. Wie ist es, wenn man alle Menschen mit einem Blick ansieht, der die Tatsache dieser furchtbaren Gewissheit beachtet? Wie fühlt und denkt man, wenn man sieht, dass wir alle in einem bedauernswerten Zustand sind, weil wir „unter die Sünde verkauft“ worden sind? Und wie ist es, wenn man als Christ weiß, dass es einen Ausweg gibt, der begründet hoffen lässt, weil uns Barmherzigkeit geschenkt wird? Diese Barmherzigkeit Gottes braucht auch mein Nächster ebenso dringend wie ich. Sehe ich meinen Nächsten auch in dieser „Armut“? Bedaure ich ihn? Fühle ich mit ihm? Erkenne ich mich in ihm wieder? Gönne ich ihm Barmherzigkeit? Wenn ja, dann hat meine Armut mich besser gemacht. Diese Einsicht der eigenen Armut vor Gott kann tiefes Mitgefühl sein, das sich bis zum Mitleid steigert. Es sollte auch dazu führen, mit unserem Nächsten rücksichtsvoll, milde und nachsichtig umzugehen. Wenn ich bis hierin gekommen bin, dann verbietet sich alles, was meinem Nächsten schaden könnte und was ihm seine menschliche Würde raubt.

Demut und der Schmerz über Sünde

„Wie glücklich sind die, die Leid über Sünde tragen“. (Bergpredigt)

Ist man über die eigenen Sünden traurig? Bedauert man alles, was man falsch gemacht hat? Man sagt, dass Einsicht der erste Schritt zur Besserung ist. Und die Einsicht über das eigene Fehlverhalten ist mit der erste Schritt zu Gott, der erste Schritt, der die Versöhnung mit Gott einleiten kann. Dazu ist Demut nötig, denn ein Mensch der sich einbildet, keine Schuld auf sich geladen zu haben, belügt sich selbst – und Gott.

Und das ist Zeitgeist und war eigentlich immer aktuell. Es ist also nichts Neues, wenn man immer wieder hört: „Ich habe keine Schuld!“ Das Eingeständnis von Schuld wird als Schwäche ausgelegt. Ja, Schuld wird geradezu verspottet und darin gleichen viele Menschen dem, was in Sprüche 14:9 steht: „Narren verspotten die Schuld“. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man Schuld leugnet, weil sie einem oft genug ausgeredet worden ist. Die Psychologen haben in der Vergangenheit ganze Arbeit geleistet, wenn sie Schuld häufig in der schlechten Kindheit ihrer Kunden gesucht haben. Und wer war Schuld? Meist wurden die Eltern und Großeltern als Schuldige ausgemacht. Natürlich kann man die Kette der Schuldigen zurückverfolgen, von mir aus bis Adam. Und dann? Ja dann bleibt nur noch ein Schuldiger übrig: Gott.

Man hat auch ein Problem mit der Verantwortung. Denn wer keine Schuld empfindet, spürt in seiner Verblendung auch keine Verantwortung. Wir denken an Gewissenlosigkeit, wenn wir üble Verbrecher vor Gericht sehen. Aber es gibt keinen Menschen ohne Gewissen! Wer Schuld verleugnet, verleugnet auch sein Gewissen. Und die ganze Tragweite dieser Leugnung wird einem klar, wenn man sich fragt, wie es möglich war, dass Menschen unter dem Einfluss des Nationalsozialismus bestialische Handlungen an Mitmenschen vornahmen. Und dieses Beispiel ist leider kein Einzelfall.

Verantwortung vor wem? Man kann Verantwortung vor sich selbst oder vor den Menschen wahrnehmen wollen. Aber aus der Geschichte lernt man schnell, dass die Verantwortung vor Menschen gar nicht tragfähig ist. Sie ist ja unverbindlich und kann jederzeit aufgekündigt werden, wenn es „die Umstände erfordern“. Man schaue sich nur einmal die Forscher und Erfinder der Nuklearwaffen an. Nein, eine Verantwortung, die nicht in der eigenen Gottverbundenheit wurzelt, ist keine Verantwortung!

Durch die ganze Bibel zieht sich auch der Gedanke der Schuld. Die Schuld hat jeden Menschen der Bibel beschäftigt. Und darum suchten sie bei Gott Vergebung. Das klingt für Tatmenschen dieses Zeitalters wie ein Märchen aus alten Zeiten. Und ich vermute, dass sie eines Tages doch bemerken werden, dass sie schuldig geworden sind, weil sie nicht auf ihr Gewissen oder auf Gott gehört haben. Wer Schuld verspottet macht sich doppelt schuldig: Gegen sich selbst und gegen Gott. Wer demütig ist und Schuld eingesteht, darf Vergebung erwarten. Wer über seine Sünden trauert, wird sich an Gott wenden. Und dann wird er Vergebung erfahren und glücklich sein.

Demut, Milde und Friedfertigkeit

„Wie glücklich sind die, die sich nicht selbst durchsetzen. (Bergpredigt)

Menschen ohne Demut sehen in ihren Mitmenschen immer Konkurrenten, gegen die sie kämpfen müssen. Man setzt sich durch und vergisst sehr schnell, dass der Konkurrent auch ein Mensch ist, für den man vor Gott verantwortlich ist. So wird das große Heer der Prekären, der Verlierer, immer größer. Das ist kein „Schicksal“, sondern die Folge der großen Rücksichtslosigkeit, die ein Werkzeug in der Hand von Menschen ist, die sich durchsetzen. Milde sieht anders aus, denn sie hat das Wohl des anderen im Blick. Die Christenversammlung sollte eine Gemeinschaft von Milden sein, denn Demütige stehen nebeneinander, niemals übereinander, denn sie dienen sich gegenseitig. Durch Jesu Demut sind sie alle gleich groß, gleich wichtig und gleich wertvoll geworden. Denn Jesus hat sie zu seinen Geschwistern erhoben, er hat dafür gesorgt, dass sie zur Hausgemeinschaft Gottes gehören dürfen (Eph. 2:17-22).

Die gegenseitige Beziehung zu christlichen Geschwistern hat Jesus oft genug angesprochen. Er musste oft darüber sprechen, denn seine Apostel hatten ein Problem: Jeder wollte den ersten Platz einnehmen. Bei einer Gelegenheit machte Jesus dies deutlich:

„Ihr wisst, wie die Herrscher sich als Herren aufspielen und die Großen ihre Macht missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein. Wer bei euch groß sein will, soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein.“ (Mat. 20:25-27)

Damit sind alle Rangstreitigkeiten vom Tisch. „Wer bei euch groß sein will, soll euer Sklave sein“. Das bedeutet nicht weniger, als dass in einer Gruppe von Nachfolgern Jesu mindestens eine Person da ist, die sich zum Sklaven aller macht, weil sie ein ihr eigenes Talent für alle einsetzt, ohne daraus einen Machtanspruch abzuleiten!

 Wenn Jesus das Beispiel eines Sklaven wählt, dann möchte er wohl deutlich machen, dass alle Sklaven sind und so auf einer Stufe vor Gott stehen. Um das einzusehen muss man bestimmt demütig sein und sich nicht gestatten, zu hoch von sich zu denken.

Wer sich zu wichtig nimmt, hat von sich eine hohe Meinung und stellt sich ganz bewusst hoch über andere. Der Stolze, der Überhebliche hat seinen Blick auf sich eingeengt; sein Horizont wird klein und er schwebt immer in der Gefahr, sich zu verrennen, weil er die Grundlage des menschlichen Glücks nicht im Dienst an anderen sieht, sondern nur seine eigenen Interessen verfolgen will. Er will sich durchsetzen – und das geht nur auf Kosten anderer. Er ist zum Kampf, zum „Krieg“ bereit; er kann kein Friedensstifter sein. Und wer kein Friedenstifter ist, wird auch nicht als Kind Gottes betrachtet.

Demut und der Dienst für den Nächsten

Demütige stehen nebeneinander, niemals übereinander! Das hat Jesus deutlich gemacht, denn seine Demut hat sie alle gleich gemacht. Darum spricht er wiederholt die Tatsache aus, dass seine Nachfolger Brüder sind, und keiner soll sich „Lehrer“, „Führer“ und „Vater“ nennen oder nennen lassen (Mat. 23:8-12). Trotzdem gibt es in einer Versammlung von Christen Lehrer und Hirten, Vorsteher und Älteste. Wie soll sich das mit der Forderung Jesu vereinbaren, dass es keine Rangordnungen, keine Prominenz,  geben soll?

Der Apostel Paulus sprach davon, dass Gott den Menschen unterschiedliche Gaben verliehen hat. Wenn man also eine Gabe hat, dann ist es kein eigener Erwerb und kein Verdienst. Man kann ja nichts dafür, dass man ein besonderes Talent geschenkt bekommen hat. Auch die Fähigkeiten, über die Menschen in einer Versammlung verfügen, sind Geschenke Gottes. Und Jesus wünscht, dass jeder seine Gabe, sein Talent, zum Nutzen aller einsetzt. Er soll sie einsetzten, ohne daraus einen Gewinn zu schlagen. Es soll wie im menschlichen Körper sein, wo jedes Organ, jedes Glied zum Wohl des Ganzen da ist. Diesen Vergleich zieht Paulus in 1. Kor. 12:12-31. In diesem Zusammenhang verweist der Apostel eindringlich auf die Einheit in Verbindung mit Christus und darauf, wie und wozu jeder seine Gabe einsetzten soll:

„Nun gibt es verschiedene Zuteilungen an geistlichen Gaben, doch nur ein uns denselben Geist; es gibt verschiedene Dienst, doch nur ein und denselben Herrn; es gibt verschiedene Kräfte, doch nur ein und denselben Gott, der alles in allen wirkt. Und an jedem von uns will sich der Geist zum Nutzen der Gemeinde offenbaren.“ (1. Kor. 12:4-7)

Aber das falsche Denken der Menschen will etwas anderes: Man will Prominenz, Stellungen, Rangordnungen, Macht über andere und die Anerkennung oder den Beifall von Menschen. Das führt dann dazu, dass man sich eine hohe Meinung über sich selbst erlaubt, den Nebenmann herabstuft oder unter sich stellt. Das aber macht es unmöglich im wahrsten Sinn zu glauben, denn Gott widersteht dem Hochmütigen. 

Wir alle kennen die Arroganz vieler religiöser Führer, die sich allzu oft hinter einer Scheindemut verbirgt und andere täuscht. Wir kennen den Widerspruch zwischen ihren salbungsvollen Worten und ihren Taten. Das wollte Jesus in seiner „Gemeinde“ nicht! Und weil er es nicht wollte, können diese Leute nie den Anspruch erheben,  seine Diener zu sein. Es fehlt ihnen allgemein die Demut, die Jesus hatte.

Ein Diener Jesu hat in seiner Demut eine hohe Meinung von seinen Mitgläubigen, weil er sich ihnen gleich fühlt und neben ihnen steht. Sie haben in seinen Augen einen hohen Wert, weil auch sie mit dem „Blut Christi erkauft“ worden sind. Und wenn er ihnen in ihrem Auftrag dienen darf, dann tut er es mit Freude und leitet aus seinem Dienen keinen Anspruch auf besondere und bevorzugte Behandlung ab. Er ist sich bewusst, dass er ein Sklave ist, dass die Gemeinschaft der Gläubigen ihn für diesen Dienst ausgewählt hatte und erwartet, dass er allen zu Diensten ist. Er bekleidet kein Amt, das mit besonderer Würde und Einkommen verbunden ist. Ich möchte das christliche Dienen mit einem Erlebnis verdeutlichen:

Eine Nomadensippe wollte einen Fluss überqueren. An einer Furt machte sie Halt und sah das reißende Wasser. Man zögerte. Da löste sich aus der Gruppe ein Mann, stieg auf ein Pferd (das einzige der Sippe) und fing an, den wirren Haufen aus Menschen, Gepäck, Kindern und Vieh zu ordnen. Die einzelnen Familien stellten sich in einer langen Reihe auf. Dann gab der Mann auf dem Pferd ein Zeichen und die erste Familie machte sich daran, die Furt zu queren. Das Wasser reichte den Erwachsenen bis an die Brust, so dass sie die Kinder auf den Schultern tragen mussten. Als ein paar Familien die Furt überquert hatten und die nächste in der Mitte des Flusses war, riss sich eine Ziege los und schwamm zum Ufer zurück. Der Besitzer wollte hinterher, doch ein lauter Zuruf vom Mann auf dem Pferd schickte ihn wieder mit seiner Familie vorwärts. Die Ziege wurde vom Reiter eingefangen und der nächsten Familie mitgegeben. So hat der Reiter manchen kleinen Zwischenfall gelöst und für eine fast reibungslose Überquerung der Furt gesorgt. Er ging als Letzter durch, stieg vom Pferd und war wieder so wie jeder andere. Hier hat ein Mann sein Organisationstalent zum Nutzen aller eingesetzt; er war für eine kleine Weile Sklave aller und doch für kurze Zeit ihr Führer.

In der Bibel haben wir im NT ein Negativbeispiel in einem Mann namens Diotrephes. Johannes schrieb über ihn: „Ich habe der Gemeinde einen Brief geschrieben. Aber Diotrephes, der sich für den ersten Mann in der Gemeinde hält, will nicht auf uns hören. Ich werde deshalb sein Verhalten zur Sprache bringen, wenn ich komme. Denn er lügt und verbreitet unglaubliche Dinge über uns. Vor allem aber verweigert er den durchreisenden Brüdern die Gastfreundschaft. Und wenn andere sie aufnehmen wollen, hindert er sie nicht nur daran, sondern stößt sie sogar aus der Gemeinde.“ (3. Joh.9, 10)

Hier hat sich ein Knecht zum Herrn aufgeschwungen und begonnen über die Gemeinde zu herrschen. Und man muss davon ausgehen, dass die Gemeinde es zugelassen hat! Das ist irgendwie typisch und entspricht einer Prophezeiung, die Paulus geäußert hat: „Ich weiß, dass nach meinem Abschied gefährliche Wölfe bei euch eindringen werden und erbarmungslos unter der Herde wüten werden. Selbst aus euren eigenen Reihen werden Männer auftreten und die Wahrheit verdrehen, um die Jünger des Herrn [Jesus] zu ihren Nachfolgern zu machen.“ Die Gemeinde hat also zugelassen, dass jemand aus ihrer Mitte eine falsche Lehre, eine Lüge, dazu benutzte, um sie auf seine Seite zu ziehen. Das wurde dann Vorbild für viele andere und führte letztlich zu dem schlimmen Zustand des heutigen institutionalisierten Christentums. Wer diese Erfahrung gemacht hat, sagt allen Organisationen „Lebe wohl!“, weil er weiß: Glauben kann man nur allein!

Veröffentlicht von Tilo

Ein alter Mann, der lange Zeit ein Zeuge Jehovas war und dieser Kirche aus Gewissensgründen den Rücken kehrte. Heute stehe ich allen Kirchen misstrauisch gegenüber, denn glauben kann man nur allein. (amenuensor@aol.com)

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