Barmherzigkeit

Welch ein großes und erhabenes Wort der Bibel! Und welchen großen Raum nimmt dieser Begriff in den Lehren Jesu ein! In seiner berühmtesten Predigt sagte er:

„Wie glücklich sind die Barmherzigen! Ihnen wird Gott seine Zuwendung schenken.“

Jesus war und ist barmherzig. Und er übte Barmherzigkeit nicht automatisch, wie eine kalte, religiöse Pflicht. Immer stand ein armer Mensch im Mittelpunkt, und jedes Mal ging es ihm um Liebe, um das, was uns Menschen so wichtig und wertvoll ist. Und wir erleben mit, wie er Barmherzigkeit schenkte und damit andere und sich selbst glücklich machte. Sein ganzes irdisches Leben war von Barmherzigkeit geprägt. Alle seine Worte und Handlungen waren davon begleitet, und viele Menschen bemerkten das und wurden dadurch von ihm angezogen.

Wie Jesus Barmherzigkeit übte

Ein herzerwärmendes Beispiel zeigt uns, wie er mit einem langjährigen Sünder umging, der beinahe gedankenlos und damit gegen seine eigenen Interessen lebte. Denn sein Verhältnis zu Gott und seinen Mitmenschen war belastet und sein eigenes Glück gefährdet. Er war Steuereinnehmer im Dienst der römischen Besatzungsmacht in Judäa. Diese Stellung nutzte er, um sich durch überhöhte Steuerforderungen zu bereichern.  Er war als schlimmer Sünder verschrien und ein näherer Umgang mit ihm war verpönt. Aber das schien ihm nicht viel auszumachen, und so hätte er weiter leben können, wenn … Ja, wenn er nicht Jesus getroffen hätte! Als er Jesus hörte, ihn aber nicht sehen konnte, weil er klein war und die anderen Zuhörer ihm die Sicht nahmen, kletterte er auf einen Baum.

Als Jesus ihn dort sah, geschah etwas, was niemand erwartet hatte: Jesus sprach ihn an:

„Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute noch zu dir kommen!“

Schnell stieg Zachäus vom Baum herunter und nahm Jesus voller Freude bei sich auf.

Die Leute waren empört, als sie das sahen. ‚Bei einem ausgemachten Sünder ist er eingekehrt, murrten sie.“ (Luk. 19.5-7)

Dieses Murren war die übliche Reaktion der Leute, wenn Jesus Sündern Barmherzigkeit schenkte. Wir finden sie immer wieder. Zum Beispiel hier: Als Jesus bei einem Pharisäer eingeladen war, kam eine stadtbekannte Hure herein und salbte Jesu Füße mit teurem Duftöl. Der Pharisäer nahm daran Anstoß und war der Meinung, dass man mit solchen Menschen keinen Umgang zu haben hat. Damit brachte er nur die übliche Haltung der Pharisäer zum Ausdruck, die auf andere Menschen und besonders auf bekannte Sünder herabsahen und sie verachteten. Und dann musste er sich von Jesus eine Zurechtweisung anhören. Jesus machte ihm deutlich, dass diese Frau aufgrund ihrer Liebe zu ihm mit Barmherzigkeit behandelt werden musste. Denn es ging nicht um eine Formsache des gesellschaftlichen Umgangs, sondern um einen Menschen, der seine Sünden bereut und zu Gott umgekehrt war. Jesus wies den Pharisäer darauf hin, dass der Frau Barmherzigkeit geschenkt worden war, weil sie ihre Sünden bereut hatte:

„Du hast mir den Kopf nicht einmal mit gewöhnlichem Öl gesalbt, aber sie hat meine Füße mit teurem Balsam eingerieben. Ich kann dir sagen, woher das kommt: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben worden, darum hat sie mir viel Liebe erwiesen. Wem wenig vergeben wird, der zeigt auch wenig Liebe.“ (Luk. 7:46-48)

Als seine Jünger am Sabbat Ähren abrissen und die Körner aßen, weil sie Hunger hatten, kritisierten die Pharisäer Jesus mit den Worten: „Das ist am Sabbat nicht erlaubt!“ (Mat. 12:3) Und als er auch wieder am Sabbat einen Kranken heilte, kam dieselbe Kritik. Beide Male zitierte Jesus ein Wort Gottes aus Hosea 6:6. Gelegentlich wagte Jesus einen Blick in die Herzen seiner Kritiker und stellte eine erstaunliche Herzenshärte fest:

„Wenn ihr begriffen hättet, was es heißt: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer!’, so hättet ihr die Schuldlosen nicht verurteilt.“

Ja, das war ihnen irgendwie fremd geworden, weil sie das Gesetz Moses über den Menschen stellten und den Menschen unbedingt darunter zwingen wollten. Sie sahen nur das Gesetz und der Mensch war in ihrer Vorstellungswelt für das Gesetz da, und nicht das Gesetz für den Menschen! Damit waren sie weit von der Liebe Gottes abgetrieben und verstanden nicht, wozu das Gesetz dienen sollte. Das möchte ich kalten Legalismus nennen.

Doch zurück zu Zachäus! Die freundlichen Worte Jesu, seine Vorurteilslosigkeit und sein Unbekümmertsein um die öffentliche Meinung und sein warmes Interesse am Mitmenschen brachten diesen Sünder zur EINSICHT. Es muss ihm lange nicht passiert sein, dass jemand um seinetwillen alle formalen Bedenken zurückstellt und sich ihm als Individuum zuwendet. Er muss diese Zuwendung als Ausdruck der Liebe gewertet haben, denn bevor Jesus noch etwas sagen konnte, bereute er sein habgieriges Verhalten und versprach, das Unrecht wieder gutzumachen. Und was sagte Jesus?

„Heute hat dieses Haus Rettung erfahren. … Er ist doch auch ein Sohn Abrahams. Der Menschensohn ist ja gekommen, um zu suchen und zu finden, was verloren ist’.“ (Luk. 19:9, 10)

Jesu Barmherzigkeit war keine gefühllose Pflichterfüllung, mit der er eine Forderung der Gerechtigkeit Gottes zu erfüllen meinte. Er hatte auch Gottes Liebe im Sinn! Er war von Herzen mild gesinnt, mitfühlend und von Mitleid bewegt. Er nahm einfach regen Anteil am Leben und Leiden der Menschen. Seine Liebe war frei von jeder Selbstsucht.

Wozu Barmherzigkeit?

An diesem Ereignis ist abzulesen, was Barmherzigkeit bewirken kann und wozu sie geübt werden soll. Wir wissen ja aus der Schrift, dass „Gott voller Barmherzigkeit ist“, dass wir alle Sünder sind und darum Gottes Barmherzigkeit brauchen. Aber ich möchte die Sache einmal von der Absicht her beleuchten, die Gott und seinen Sohn Jesus zu Barmherzigkeit veranlassen. Ich nehme einmal die bekannten Worte Gottes aus 2. Moses 34:6, 7, wo Gott sich dem Propheten Moses offenbarte und zum Ausdruck brachte, warum er trotz seiner Barmherzigkeit keine Straffreiheit gewährt. Das scheint doch ein Widerspruch in sich selbst zu sein, denn meinen wir nicht alle, dass Barmherzigkeit Strafe erlässt? Deutete nicht Jakobus so etwas in seinem Brief (2:13) an, wenn es heißt: „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.“?

Es ist kein Widerspruch! Denn gegenüber Moses deutet ja Gott an, dass er Strafe bringt über die dritte und die vierte Generation im Falle derer, die ihn hassen. Der hebräische Ausdruck dafür hat aber damit zu tun, dass er die Nachkommen durch die betrüblichen Folgen der Sünde zum Nachdenken und zur Einsicht führen will; er will den guten Zustand wiederherstellen und Strafe als Zucht dafür zulassen. Es geht nicht um kalte Gerechtigkeit, sondern um den Sünder, der eine Gelegenheit zur Umkehr bekommen soll. Gott hält auf diese Weise die Tür offen! Und es geht nicht um physische Strafen, sondern um die Folgen des eigenen Fehlverhaltens und um Gewissensqualen.

Und Gott hofft, das betrübliche Erfahrungen dem Sünder den Weg zur Umkehr ebnen. So jedenfalls war es in Jesu Gleichnis vom verlorenen Sohn: „Gern hätte er seinen Hunger mit den Schoten für die Schweine gestillt, aber niemand gab ihm welche. Jetzt kam er zur Besinnung.“ (Luk. 15:16) Andere übersetzen so: „Aber in sich selbst angekommen,…“ Es kommt tatsächlich darauf an, dass ein Sünder in sich selbst ankommt. Der Hunger und die Not machten ihn nachdenklich und mit einem Mal sah er ein, was er falsch gemacht hatte. Erst jetzt wies ihn sein eigenes Herz zurecht! Und jetzt konnte er bereuen und zum Vater zurückkehren. Das möchte Gott durch die Zulassung der Strafe (oder den Folgen der Sünde) erreichen.

Im Mittelpunkt von Gottes Barmherzigkeit steht also des Menschen Wohl. Seine Barmherzigkeit soll das Herz berühren und zum Umdenken veranlassen. Hier wird der innere Mensch angesprochen, der sich im Gewissen selbst anklagen mag. Und es wird nur der angesprochen, der ein Gefühl oder ein Empfinden dafür hat und weiß, dass er bei all seiner Verkehrtheit schließlich doch Gott verantwortlich ist und dessen Barmherzigkeit braucht. Im Grunde seines Herzens weiß er, woran er leidet und dass es manchmal nur ein erlösendes Wort braucht, um ihm zu helfen. Aber religiöse Intoleranz und Hartherzigkeit verhindern das erlösende Wort und der Sünder steht dem hilflos gegenüber.

Was die Pharisäer vergessen hatten: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue

Und wir werfen noch einen Blick auf die Pharisäer: Sie waren Gefangene ihrer Doktrin, ihrer religiösen Ideologie. In ihr gab es keine Nachsicht, kein Mitgefühl für den Sünder. Sie fragten nicht nach dem Warum. Für sie war nur dies wichtig: Hat er das Gesetz Mose und die Überlieferungen übertreten oder nicht? Über die Frage, wie und auf welchem Weg einem Sünder zu helfen war, machten sie sich wohl keine Gedanken. Und über die Umstände, die zur Sünde führten, machten sie sich auch kaum Gedanken. Jedenfalls ist mir aus den Evangelien kein Beispiel dafür bekannt.

Gottes Absicht: Dem Sünder den Weg zur Reue zu ebnen

Die Pharisäer waren tatsächlich der Meinung, alles richtig zu machen. Sie waren selbstgerecht. Das wurde bei einer Gelegenheit deutlich, als man eine Ehebrecherin zu Jesus brachte und sie durch ihn verurteilt wissen wollte. Und wir wissen, wie Jesus die Ankläger bloßstellte: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“ Und als die Ankläger fortgegangen waren sagte er: „Auch ich verurteile dich nicht. Gehe hin und sündige nicht mehr!“ (Joh. 8:1-4) Ich denke mir, dass die Sünderin nach dieser Erfahrung der Barmherzigkeit nicht mehr so weiter lebte wie bisher. An dieser Begebenheit fällt noch etwas auf: Das Gesetz verurteilte Ehebruch klar und deutlich. Hätte sich Jesus streng an das Gesetz Moses gehalten, hätte er kaum so reagieren können, wie es der Bericht überliefert. Aber wieder einmal stellte er Liebe und Barmherzigkeit über das Gesetz Moses! Er tat das, weil für ihn der sündige Mensch im Mittelpunkt stand und weil er eine Sünderin zur Reue bewegen wollte. Aber wie vertraut ist uns das verirrte Verhalten der Pharisäer! Sie waren gewissermaßen in ihrem Verhalten das Gegenteil von Jesus. Wenn sie „Gaben der Barmherzigkeit“ schenkten, dann dachten sie gewöhnlich an sich selbst. Dann ließen sie es „vor sich her posaunen“, dann sollten alle sehen, wie fromm und großartig liebevoll sie waren. Wie sah Jesus dieses Verhalten an? Er garantierte ihnen, dass die Bewunderung der Masse schon ihr ganzer „Lohn“ war. Bei Gott galt das nicht! Wenn Jesus eine gute Tat vollbrachte, dann verbot er öffentliche Reklame. Wenn die Pharisäer eine gute Tat vollbrachten, dann waren sie nur gnädig und ließen sich dazu herab. Dadurch verlor die Barmherzigkeit den schönen Glanz der Liebe und der Aufrichtigkeit.

Veröffentlicht von Tilo

Ein alter Mann, der lange Zeit ein Zeuge Jehovas war und dieser Kirche aus Gewissensgründen den Rücken kehrte. Heute stehe ich allen Kirchen misstrauisch gegenüber, denn glauben kann man nur allein. (amenuensor@aol.com)

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