Da schreit vor Jahrtausenden irgendwo im Land Uz ein armer Mensch seine Klage heraus! Er kann nicht mehr, er ist am Ende, er meint am Ziel zu sein. Gestern noch lebte er im Glück seines Glaubens, in Geborgenheit seines Reichtums und seines Ansehens. Geachtet und geehrt war er, und alles schien darauf hinauszulaufen, dass sich der Kreis schließt und er ein friedliches Ende nach einem erfüllten Leben finden würde.
Aber dann! Er verliert buchstäblich alles bis auf sein Leben, das nun wie eine schwere Last an ihm hängt. Er verliert schon sich selbst, als er seine Klage laut werden lässt:
„Und nun zerfließt meine Seele in mir,
Tage des Elends halten mich fest.
Die Nacht durchbohrt mein Gebein,
die nagenden Schmerzen hören nicht auf.
Durch ihre große Heftigkeit
Entstellt sich mein Gewand.
Er hat mich in den Dreck gestürzt,
wie Staub und Asche bin ich geworden.
Ich schreie zu dir, und du antwortest nicht;
ich stehe da, und du starrst mich nur an.
Zum Grausamen verwandelst du dich mir,
mit starker Hand verfolgst du mich.
Du hebst mich hoch, lässt mich reiten im Wind,
dass ich die Besinnung verliere.
Ich weiß, du führst mich in den Tod,
ins Haus, wo alles Lebendige sich sammelt.
Doch streckt man beim Sturz nicht die Hand aus,
schreit man nicht beim Untergang?
Weinte ich denn nicht über den, der harte Tage hatte?
Hatte ich mit Armen denn kein Mitgefühl?
So erwartete ich Gutes, doch es kam Böses;
Ich wartete auf Licht, doch es kam Finsternis.“ (Hiob 30:16-26)
Das halte ich für das Schlimmste, was ein gottvertrauender Mensch wahrnehmen kann, wenn er laut werden lässt: „Ich schreie zu dir und du antwortest nicht; ich stehe da, und du starrst mich nur an.“ Und ich habe nur eine Ahnung davon, wie schrecklich das Gefühl ist, von Gott verlassen worden zu sein! Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Diese grausame Angst! Das absolute Nichts!
Hatte Gott ihn wirklich vergessen und verlassen? Hiob hat es so empfunden, deshalb klagte er seinen Schöpfer an. Er musste es ja so wahrnehmen, weil er die Zusammenhänge, die zu seinem Unglück führten, nicht kannte (Hiob 1:8-12; 2:3-6). Er war ratlos und verstand seinen Gott nicht. Er wurde irre an seinem Vater im Himmel! Und ich frage mich: Kann ein Glaubender soweit kommen? Doch! Er kann dahin kommen.
Als Johannes der Täufer im Gefängnis war, schickte er zu Jesus und ließ ihn fragen, ob er der erwartete Messias sei. Jesus beantwortete die Frage mit dem Hinweis auf seine Tätigkeit und bemerkte: „Und glücklich ist der zu nennen, der nicht an mir irre wird.“ (Luk.7:23)
Immer wieder überfallen uns Zweifel. Warum ist das so? Wir zweifeln nicht an der Existenz Gottes, aber mitunter sind wir uns seiner Nähe gar nicht sicher. Zum Glauben, zum unmittelbaren Glauben, gehört einfach die Nähe dazu, damit es nicht eine unverbindliche Sache ist, vielleicht nur ein Bekenntnis zu irgendetwas, was irgendwie mit Gott und Glauben zu tun hat. Es gehört unbedingt die persönliche Erfahrung der Nähe Gottes zum Glauben dazu.
Diese Nähe finde ich im Gebet, in dem ich meine persönlichen Gedanken und Befindlichkeiten ausdrücken kann. Aber wieso kann ich sicher sein, dass Gott zuhört? Das habe ich mich schon oft gefragt, und meine Antwort ist aus einer bestimmten Erfahrung entstanden: Es ist ein Gefühl, das ich nicht beschreiben kann. Ich weiß nicht, womit ich es vergleichen kann. Ich habe in meiner unzulänglichen Sprache dafür keine Worte. Es hat auf jeden Fall viel mit innerem Frieden und einem guten Gewissen zu tun, mit Freude ebenso wie mit Befreiung von Sorgenlast und Angst. In meinem Bewusstsein geschieht etwas, was mich glücklich macht und mir sagt, dass mein Vater im Himmel lebt, dass er in meiner Nähe ist. Ein glaubender Mensch weiß es und spürt es, wenn ‚Gottes Angesicht über ihm leuchtet’. Es besteht eine Verbindung. Das ist für mich die Wahrheit des Glaubens! Ich weiß, dass mein Schöpfer lebt; ich spüre seine Gegenwart. Vergleich: Ich spüre es, wenn ein anderer Mensch in meiner Nähe ist, auch wenn ich ihn nicht mit den normalen Sinnen wahrnehme.
Ich habe auch das Gegenteil erfahren, wenn ich durch das Leben vom Wesentlichen abgelenkt worden bin oder wenn mein Gewissen belastet war. Dann hatte ich das Gefühl der Heimatlosigkeit, das Gefühl des Verlassenseins und der Leere. Ich merkte es, wenn Gott sich von mir entfernte und war tief betroffen. Mir ging es ebenso wie anderen, die z. B. in den Psalmen erwähnt werden:
Wenn du mich schweigend von dir weist,
bin ich wie ein Toter im Grab. (Ps. 28:1)
Denn deine Güte, Jehowah,
stellte mich auf sicheren Grund.
Doch dann verdecktest du ein Gesicht
Und ich verlor allen Mut.“ (Ps. 30:8)
Hiob hat an der Existenz Gottes nicht zweifeln können, aber er zweifelte an Gottes Nähe, an Gottes Gerechtigkeit und Liebe. Seine Zweifel betrafen das Handeln Gottes, weil er seine Glaubenswelt nicht mehr verstand. Er sah, dass Gott ihm nicht half, dass er so schlimme Dinge zuließ. Dennoch hoffte er!
„Doch ich weiß, dass mein Erlöser lebt
er steht am Schluss über dem Tod.
Nachdem man meine Haut so sehr zerschunden hat,
werde ich auch ohne mein Fleisch Gott schauen.
Ihn selbst werde ich sehen,
ja, meine Augen schauen ihn an;
er wird kein Fremder für mich sein.
Ich sehne mich von Herzen danach.“ (Hiob 19:25-27)
Das ist für mich eine großartige Haltung! Wie viele Menschen kündigen Gott die Freundschaft, wenn sie ihn nicht mehr verstehen? Sind sie nur dann Glaubende, wenn es ihnen gut geht? Und was tun sie nachdem sie Gott beiseite geschoben haben? Ich habe es wahrgenommen, dass einige enttäuschte Menschen plötzlich ihr Leben anders führten. Wenn sie vorher versuchten moralisch zu leben, dann machten sie sich danach nur recht wenig aus moralischem Handeln. Da entsteht der Verdacht, dass Glaube für sie nur ein vorteilhafter Handel war: „Wenn ich Gott bekenne, dann muss er mir dafür etwas geben. Dann muss er mich segnen, mir Reichtum und Erfolg geben!“ (So etwa sieht es ja bei einigen calvinistisch geprägten Gemeinschaften aus.) Und dann war es eben kein Glaube, kein Vertrauen zu Gott. Dann war es Selbstsucht und nicht Liebe, dann war es Formsache, Religion und leeres Bekenntnis. Aber nicht alle, die Gott nicht mehr verstanden haben, verloren den Glauben. Aber sie zogen sich von Gott zurück und pflegten keine Gemeinschaft mehr mit ihm. Sie wurden still und resignierten.
An Hiobs Reaktion kann ich erkennen, was Glaube für ihn bedeutete. Er wurde zwar irre an seinem Gott, aber die Verbindung zu ihm ließ er nicht abreißen. Über seinen Tod hinaus hoffte er auf Gott. Er war fest davon überzeugt, dass sein Erlöser lebt! Es schien ihm gar nicht möglich gewesen zu sein Gott zu vergessen. Seine Frau hatte in ihrem Schmerz, den ihr das Leiden ihres Mannes zufügte gesagt:
„Hältst du noch immer an deiner Gottergebenheit fest? Fluche Gott und stirb!“
Doch er sage zu ihr: „Was redest du für dummes Zeug! Das Gute nehmen wir von Gott an, sollten wir da nicht auch das Böse annehmen?“ Bei alldem kam kein sündiges Wort über seine Lippen.
Hiob konnte aufgrund seiner eigenen Gotteserfahrung nicht aufhören zu glauben! Und das, obwohl er wie alle Menschen auch, Gott nicht mit seinen fünf Sinnen wahrgenommen hatte. Seine Gewissheit war in seinem Bewusstsein entstanden. Es war eine Folge des Einwirkens Gottes auf ihn.
Und ich dachte auch dies: Hiob machte sein sittliches Verhalten nicht von Gott abhängig! Er hielt an seinen Idealen fest, weil er es selbst so wollte, und zwar unabhängig davon, was Gott tat. Hiob hat sein Gewissen als den Ort entdeckt, wo er seinem Gott begegnete. Das machte er mehrmals deutlich, wenn er seine Rechtschaffenheit schilderte (Hiob 31). Hiob sah in seinen sittlichen Idealen, wie sie ja jeder Mensch kennt, das Fundament des menschlichen Lebens. Und nicht nur das, es war die Voraussetzung für ein glückliches Leben!
Satan aber unterstellte Hiob reine Selbstsucht als Grund für seine Rechtschaffenheit. Im Gespräch mit Gott behauptete er:
„Ist Hiob etwa umsonst so gottesfürchtig? Du beschützt ihn doch von allen Seiten, sein Haus und alles, was er hat! Du lässt ja all sein Tun gelingen, und seine Herden breiten sich im Land aus. Versuch es doch einmal und lass ihn alles verlieren, was er hat. Ob er dir dann nicht ins Angesicht flucht?“ (Hiob 19-11)
Auch als Hiob nach dem Verlust seines Besitzes und seiner Kinder auch noch seine Gesundheit verlor, verließ er Gott nicht! Er wollte unter allen Umständen an seiner Rechtschaffenheit und an Gott festhalten. Seine Moralität war eben nicht käuflich! Er hatte Gott als eine Person erfahren, der er mit Zuneigung und Liebe, mit Respekt und Ehrfurcht begegnete. In diesem Verhältnis wäre jede Art von Berechnung eine Schande gewesen.
Hiobs Problem scheint mir darin zu bestehen, dass er Gottes Schweigen nicht verstand. Aber was konnte Gott tun, nachdem sein Widersacher behauptet hatte, dass Hiob nur aus Berechnung Gott ergeben sei? Er sagte dann nur: „Er ist in deiner Hand!“ Und dann ließ Satan das Unheil auf Hiob los.
Hiob bekam in seinem Unglück Besuch von drei Bekannten. Sie wollten ihn eigentlich trösten, aber sie machten Hiob Vorwürfe und behaupteten, dass wegen versteckter Sünden das ganze Leid über ihn gekommen sei. Nun hatte Hiob ein reines Gewissen und so konnte er diese Behauptungen nicht annehmen. Seine Bekannten drückten nur das aus, was wir heute ebenso oft antreffen: Wenn man gerecht handelt, dann geht es einem gut. Aber diese plumpe Formel konnte und musste Hiob nur als trügerisch entlarven. Und so blieb vorerst die Frage unbeantwortet, warum er so leiden musste.
Und Gott schwieg. Was wollte er? Er wollte sehen, ob Hiob ihm aus ehrlicher Liebe ergeben war oder aus Selbstsucht. Gott war von Hiobs Aufrichtigkeit überzeugt, aber der Teufel brauchte eine Antwort. Und so sah er erst einmal zu und wartete ab. Und Hiob blieb seinem Gott treu, auch wenn er ihm Vorwürfe machte. So war Hiob an seinem Gott irre geworden, weil er ihn nicht verstand.
Hat er Gott später verstanden? Im Bericht über Hiob finden wir keinen Hinweis, dass er vom Gespräch zwischen Gott und Satan etwas erfahren haben könnte. Gott sprach zwar aus dem Sturm mit ihm, aber darauf ging er nicht ein. Aber etwas anderes machte er seinem Sohn Hiob deutlich: Als Schöpfer und Erhalter der ganzen Schöpfung weiß er über alles Bescheid. Nichts entgeht seiner Aufmerksamkeit. Und Hiob sollte er vergessen, übersehen haben? Ein Gott des Rechts und der Liebe, sollte Hiob aus dem Blick verloren haben? Das konnte Hiob nicht annehmen. Und so lernte Hiob etwas, was für seinen Glauben sehr wichtig war: Auch wenn er Gott nicht verstand, durfte er ihm bedingungslos vertrauen! In diesem Vertrauen konnte er sich geliebt und geborgen wissen. Und der Ausgang der Geschichte Hiobs bestätigte dies.
Ein Glaubender kann – denn das gehört zu seiner Natur – mitunter an Gott zweifeln oder irre werden. Aber er hat, wenn er die Geschichte Hiobs bedenkt, keinen Grund, seinen Zweifeln Raum zu geben. Ich muss und ich kann nicht alles verstehen, aber ich darf meinem Vater vertrauen, denn er ist Liebe! Das ist meine Einsicht aus dieser Geschichte.