Wie kann man in einer Welt wie dieser leben, wenn man empfindsam wach ist, wenn das Menschliche noch nicht abgestorben ist? Wie kann ich als Mensch in einer Welt leben, die in meiner eigenen Wahrnehmung immer wüster wird und mich von allen Seiten unheilvoll bedrängt? Ich sehe doch die grässlichen Bilder aus der Offenbarung Gestalt annehmen; ich sehe, wie diese Welt von Jahr zu Jahr mehr und mehr zerfällt! Ist das nur Einbildung?
Allein die Nachrichten eines Tages sind in ihrer ganzen Tragweite unfassbar: Im vergangenen Jahr tobten 29 Kriege mit unvorstellbar vielen Toten. Es gab verheerende Hungersnöte mit jährlich 300.000 Toten, jetzt die Corona-Pandemie mit schlimmen möglichen Folgen, lebensbedrohende Umweltkatastrophen, weltweiter Terror, steigende Kriminalität, ausufernde Korruption und … und … und !
Sehe ich die Sache zu schwarz? Ich kann sie nicht anders sehen, weil die Zahlen, die grässlichen Zahlen, unaufhaltsam steigen. Ich weiß: Gegen diese Flut des Unheils gibt es kein Mittel; der Mensch hat keine Lösung dieser Probleme, es sei denn, er würde sich ändern. Darauf aber kann ich nicht hoffen, weil die Voraussetzung dafür fehlt. Die ganze Geschichte beweist, dass der allgemeine Mensch das geblieben ist, was er immer war: Uneinsichtig und böse, verlogen und habgierig.
Ständig kreisen die Gedanken: Da schießt man einen Roboter auf den Mars, und hier auf der Erde fließt ein gewaltiger Strom von Tränen! Man macht wunderbare Erfindungen, und unter fast jedem Dach wohnt der Kummer, das Leid und die Sorge. Man hält Friedenskonferenzen ab, aber der Hass aufeinander wächst und Kriege hören nicht auf. Ein Blick in die Geschichte genügt schon, um festzustellen, dass sich nichts wirklich geändert hat: Jedes „Ruhmesblatt“ der Geschichte ist mit Menschenblut geschrieben und ist das Krankenblatt eines Wahnsinnigen, der weit unter das Tier gesunken ist.
Die Gedanken kreisen: Die Medizin verzeichnet gute Erfolge. Man liest von „Durchbrüchen“, man überschlägt sich mit neuen „Erkenntnissen“. Man kann so manches Leiden lindern oder heilen, aber wofür, wenn der Patient von seinem eigenen Unglücklichsein aufgefressen wird, wenn Angst das allgemeine Lebensgefühl wird? Dagegen hat die Medizin nur Pillen, mit denen man das Bewusstsein schlafen legt, damit der Verzweifelte nicht in den Abgrund stürzt. Wie schön könnte es sein, wenn man auch Kraft und Scharfsinn für das Wohl der Seele einsetze, wenn man einsehen könnte, dass Moral unsere Lebensversicherung ist und dass es lohnender wäre, den Hass statt den Schnupfen zu bändigen?
Die Gedanken wandern: Ich beobachte den allgemeinen Zerfall des Menschen. Was ist mit den Menschen los? Es wollen doch alle das Gute, die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit. Aber wo finde ich das? Sind die Menschen noch bei Verstand oder beginnt auch er zu zerfallen? Verschwörungstheorien erklären den Nachbarn zum bösen Feind und manchmal, aber immer häufiger, folgt aus dem Wort die Tat. Man kommt kaum noch miteinander aus; jeder schimpft auf den anderen. Film, Fernsehen und soziale Medien werden zu widerlichen Pfützen, die mit Verleumdungen, Dummheiten, menschlichen Tragödien, Sex und Kriminalität gefüllt sind. Das scheint man zu lieben! Das füllt die Gehirne? Ist das der Spiegel der Gesellschaft? Da muss man das Schlimmste annehmen! Da muss man das Fürchten lernen!
Ist das die Welt, die mir in den 60er noch Jahren so schillernd bunt und schön gemalt wurde, als man sich “Die Welt im Jahr 2000” aufgrund “wissenschaftlicher” Überlegungen vorzustellen versuchte? Die ärgsten Krankheiten wollte man besiegt haben, ebenso den Hunger und den Krieg. Nein, diese Wunschträume gingen nicht in Erfüllung; es blieb nicht einmal so, wie es damals war. In meiner Jugend glaubte ich noch an die „großen Denker des Abendlandes“, aber beim kritischen Blick in ihre Brotbeutel fand ich nur trockene Krümel; den wirklichen sittlichen Nährwert fand ich nicht. Ich fand nur das, was die Menschen schon immer wussten: Die Einsicht, dass wir nichts wirklich wissen!
Und die Gedanken kreisen: Die „großen Denker“ des 19. Jahrhunderts (Hegel, Darwin, Nietzsche, Marx, Freud u. v. a.) fabrizierten die „wissenschaftliche“ oder philosophische Begründungen für das Töten von Millionen. Denn fortan fand der Krieg z. B. aus biologischer Sicht statt, als „Kampf ums Dasein“. Also war es eine ganz „natürliche“ Angelegenheit, wenn der Tüchtigere sich durchsetzte, der Bessere siegte. Das Unterbewusstsein wurde “analysiert” und Träume gedeutet. So fand man viele Ausreden für den Pöbel im Kopf und für jeden Verbrecher auch eine fadenscheinige Entschuldigung. In der Regel waren die Ahnen schuld, wenn sich überhaupt die Schuldfrage stellte. Und sie stellt sich bis heute nicht wirklich. Es bleibt dabei: Auch Gedanken können morden!
Was soll ich zum Fortschritt sagen, den ich auch miterlebt habe? Wo ist er? Was ist aus unseren Hoffnungen auf ihn geworden? Was hat sich eigentlich durch ihn erfüllt? Ist es das Anwachsen des “realen” Wissens, das uns mehr belastet als beglückt? Sind es die immer perverser werdenden Waffensysteme, die große Teile des Volksvermögens verschlingen und täglich blutige Opfer fordern? Sind es die Millionen Hungertoten, die nicht zu sterben bräuchten, wenn diese Welt nicht so herzlos und habgierig wäre? Was nützt es, Fortschritt in Technik und Wissenschaft zu haben, wenn weiter geschossen, gebombt, gemordet und gehungert wird, wenn der Terrorismus die Welt überzieht? Wie könnte eine Welt aussehen, die weniger über Technik wüsste, aber dafür der Liebe ein Heimatrecht geben würde?
Seit wann ist man so fortschrittsgläubig? Seit der europäischen Aufklärung? Ich glaube, damals fing der Aberglaube an, dass durch Fortschritte in der Wissenschaft die Welt besser würde. Natürlich sind zur Verbesserung der Verhältnisse Verstand und Wissen nötig, aber das allein reicht nicht hin, den Pöbel im Kopf zu bändigen!
Die europäische Aufklärung: Ein gut gemeinter Versuch, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten geistigen Abhängigkeit zu befreien. Was ist daraus geworden? Sind wir glücklicher, menschlicher, freier und weiser geworden? Angesichts der weltweit verbreiteten Barbarei kann die Antwort nicht positiv ausfallen. Sie muss negativ ausfallen, solange der allgemeine Pöbel weitermacht und sich in sinnlose Kriege stürzt. Immer wird für die angeblichen Ideale gekämpft, wie Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, aber die wahren Motive sind Raubgier, Mordlust und Gottlosigkeit, auch wenn man oft auch für den “wahren Glauben” Krieg führt.
Ach ja, die Aufklärung befreite den Menschen? Wovon befreite sie ihn tatsächlich? Sie befreite ihn von seiner metaphysischen Mitte, von Gott! Damit befreite sie ihn von sich selbst! Sie befreite ihn von der Moral! Gewiss, das wollte man am Anfang nicht, aber als die Tür zum voraussetzungslosen Denken und zur bedingungslosen Freiheit aufgestoßen war, wurde alles weitere nur zwangsläufige Folge. So unterwarf man den Menschen dem durch den Verstand geforderten kalten Nützlichkeitsprinzip; er selbst wurde zur Sache.
Die alten Seefahrer brauchten zur Orientierung noch die Gestirne und die Menschen hatten im Allgemeinen ein Leitbild. Das Gewissen und Gott hatten ihre Bedeutung noch nicht ganz verloren. Die „aufgeklärten“ Menschen hatten beides nicht mehr nötig. Der eigene Verstand sollte ausreichen? Er wurde übrigens als Gottheit verehrt, als man in Paris nach der Französischen Revolution der Vernunft einen Altar widmete! Die Vernunft des Menschen sollte fortan als Leitstern gelten. „Denn das, was IST, ist die Vernunft!“ Ich weiß nicht mehr, wer das formuliert hat, aber es drückt aus, was man sich dachte, was man hochhielt – und was mich verstört. Und die Gedanken kreisen!
Also noch einmal die Frage, wie man damit leben kann. Ich könnte zahllose Beispiele dafür anführen, dass leben für viele Menschen gar nicht möglich ist. Soweit ich in die Geschichte zurückblicken kann, ist es immer wieder zu sehen, wie verzweifelt hilflos viele Menschen sich dem Unheil ausgeliefert sahen – und sich verabschiedeten. Da sind viele geschundene Ichs und es ist noch nicht zu Ende. Ich greife ein Beispiel heraus:
„Ich habe keine Hoffnung mehr, ich spüre auch keine Rachegefühle. Alles Menschliche in mir habe ich längst verloren, vielmehr: Ich habe zugelassen, dass es verloren geht. Man muss im Leben entweder ein Engel sein oder ein Mensch oder auch ein Tier. Ich bin keines davon. Ich war als Egoist, ahnungslos und vom Unglück gezeichnet, auf die Welt gekommen. Eine Rückkehr ist jetzt nicht mehr möglich, ich kann keinen anderen Weg einschlagen. Ich kann nicht mehr mit dem Leben ringen. Ihr, die ihr glaubt, wirklich zu leben, welche Beweise habt ihr dafür in der Hand? Ich möchte weder, dass man mir verzeiht, noch möchte ich selbst verzeihen; ich will weder nach links gehen noch nach rechts, ich möchte meine Augen vor der Zukunft verschließen, möchte die Vergangenheit vergessen. … Nun lebe ich nicht mehr, ich schlafe auch nicht mehr. Es gibt nichts auf der Welt, was mir gefallen oder missfallen könnte. Ich habe den Tod kennengelernt und stehe mit ihm auf vertrautem Fuß. Er ist mein einziger Freund, der einzige, der mich tröstet.“ (Aus: „Lebendig begraben“, Sadeq Hedayat. Er starb durch eigene Hand 1951 in Paris)
Und ich könnte noch viele Namen anfügen, Namen von Menschen, die alle nicht mehr mit dem Leben ringen konnten. Aber ich will nur zeigen, dass es die existenzielle Verzweiflung gibt, die Menschen aus reinem Unglücklichsein am Leben scheitern lässt. Was für eine hündische Welt! Sie haben alle ihre Wunden und Narben bekommen, wie auch ich. Aber warum lebe ich noch? Ich, der auch in den Abgrund geschaut hat – und bereit war?
Womit hätte ich mich trösten können, auf welches Versprechen hätte ich bauen können, um nicht abzustürzen? Es war ja schon alles zerfressen, kaputt und zur Täuschung geworden. Welcher der vielen unglücklichen Philosophen hätte mir helfen können, wenn sie nicht einmal sich selbst helfen konnten?
In einer Zeit der Krise lernte ich die Bibel kennen; ein Lehrer machte mich auf dieses außergewöhnliche Buch aufmerksam. Und ich werde nie vergessen, was dieses Buch in mir auslöste! Bis heute wirkt das Wort Gottes, das mich auf den Weg zu Gott führte. Ich bin durch Jesus Christus mit Gott versöhnt worden. Dadurch habe ich meinen Blick vom Abgrund abgezogen und erfahren, was Hoffnung und eine geistige Heimat bedeuten können. Ich bin nun zu Hause, und wenn mich wieder einmal schlimme Nachrichten beunruhigen wollen, dann fällt mein Blick auf die Bibel. Dann richte ich mein Bewusstsein auf Gott und werde getröstet.
Ja, wir alle verurteilen den Krieg, wir hassen Gewalt und Lüge. Und doch findet das alles jeden Tag und an fast jedem Ort vor unseren Augen statt. Geschieht das gegen unseren Willen? Will man sich damit herausreden? Man kann es nicht, denn wir sind verantwortlich vor Gott! Und ich weiß zuverlässig, dass Gott “einen Tag des Gerichts angesetzt hat, an dem er die ganze Welt richten wird”. So sehe ich die Sache der Gerechtigkeit und der Wahrheit in guten Händen. Ich muss mir keine Sorgen um diese Welt machen; sie wird durch Jesus gerichtet werden:
“Wer Böses tut, mag es weiterhin tun, wer an schmutzigen Dingen Gefallen hat, mag sich weiter beschmutzen. Wer aber gerecht ist, soll weiter gerecht handeln und wer heilig ist, soll weiter ein geheiligtes Leben führen. Ja, ich komme bald. Und ich bringe jedem den Lohn mit, der seinen Taten entspricht. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Ursprung und das Ziel.” (Off. 22:11, 12)
Aus dem 37. Psalm drangen Worte in mein Bewusstsein, die ich mit ehrlichem Herzen annehme, auf die ich vertraue, weil Gott mein Vertrauen geworden ist:
„Reg dich nicht über die Bösen auf, beneide die Verbrecher nicht! Sie verdorren schnell wie das Gras, welken wie das grüne Kraut. Vertraue auf Jehova und tue das Gute, wohne im Lande und sei ehrlich und treu. Erfreue dich an Jehowah! Er gibt dir, was dein Herz begehrt. Lass Jehowah dich führen! l. Er wird dein Recht aufgehen lassen wie das Licht, und deine Gerechtigkeit wie die Sonne am Mittag. Sei still vor Jehowah und warte auf ihn! Reg dich nicht über den auf, dem alles gelingt, über den, der böse Pläne ausführt. Steh ab vom Zorn und lass den Grimm! Reg dich nicht auf! Das führt nur zum Bösen. … Jehowah kennt das Leben der Seinen, ihr Erbe hat ewig Bestand. In böser Zeit enttäuscht er sie nicht,…“ (Verse 1-8)
Ich möchte diesen Text nicht kommentieren, denn er spricht für sich selbst. Er ist für mich erfahrbare Wirklichkeit geworden, und ich weiß, dass ich in Gottes Liebe und Fürsorge zu Hause bin. Ich möchte danach leben, denn ich sehe keine andere Möglichkeit, denn: “Ist die Grundordnung zerbrochen, was richtet der Gerechte noch aus?” (Ps. 11:3) Und die Zweifler möchte ich fragen, worin eigentlich der Glaube an Gott bestehen soll, wenn nicht in dem, was die Worte des Psalms sagen?
Ich will die Aussage mit einem weiteren Psalm verstärken:
„Doch ich bleibe stets bei dir. Du hältst mich an der rechten Hand. Mit deinem Rat leitest du mich und nimmst mich am Ende in Ehren auf. Wen habe ich im Himmel außer dir? Und neben dir wünsche ich mir nichts auf der Erde. Auch wenn ich Leib und Leben verliere, bleibt Gott doch mein Fels und mein Anteil für immer. … Doch ich bekenne: Die Gottesnähe tut mir gut! Ich fand meine Zuflucht bei Jehowah, dem Herrn.“ (Ps. 73:23-28)
Ich kann und will nicht mehr zurück an den Rand des Abgrunds. Meine Hoffnung, mein Ziel und meine Zuversicht ist das Reich Gottes. Es ist das Reich, in dem Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit sich begegnen, wie es in alten Prophezeiungen heißt:
„Deine Verwaltung wird Frieden sein und deine Regierung Gerechtigkeit. Man hört nichts von Verwüstung und Zerstörung in deinem Land. Du wirst deine Mauern „Rettung“ nennen und deine Tore „Lob“. Das Licht der Sonne wirst du künftig nicht mehr brauchen, auch nicht mehr den Mondschein in der Nacht, denn dein ewiges Licht wird Jehowah sein, dein Gott leuchtet dir in herrlichem Glanz. … Dein Volk wird nur aus Gerechten bestehen, und das Land wird für immer ihr Eigentum sein; ein blühender Garten, von Jehowah angelegt, ein Werk seiner Hände zu seinem Ruhm.“ (Jes. 60:17-21)
Ich habe am Abgrund gestanden! Ich habe in den Abgrund der absoluten Hoffnungslosigkeit geblickt, und ich hätte damals hineinstürzen können. An meiner Meinung über die Menschheit im Allgemeinen hat sich nichts geändert; ich sehe darin die Erfüllung der Worte Gottes. In dieses moralische Tief muss man stürzen wenn man Gott nicht kennt, wenn man ihn nicht sucht und sich vor ihm nicht verantwortlich fühlt. Ich habe Gott gefunden, und er hat sich finden lassen. Aus der Bibel weiß ich, wie ich in dieser Zeit leben kann: Ich kann nur mit Gottes Hilfe durch Jesus Christus überleben. Ich kann nur in der Gottverbundenheit leben! Das steht mit kristallener Klarheit vor meinen Augen. Ich habe meine “Mitte” gefunden, ich habe die Erfahrung der Hilfe Gottes gemacht, ich habe Gott “gesehen”! Nun kann ich ruhig und froh sein, denn sein Angesicht leuchtet über mir!