Warten

Von Lot, dem Neffen Abrahams, heißt es, dass “er Tag für Tag seine gerechte Seele quälte”, weil er unter den bösen Taten seiner Umgebung litt. Wer sich damit quält, muss ein empfindliches Gewissen haben und schlechte Taten hassen, denn er weiß, dass Gott so etwas auch nicht gutheißt. Und ich kann mir gut vorstellen, dass so ein Mensch eine tiefe Sehnsucht nach der göttlichen Gerechtigkeit hat und darauf wartet, dass Gott dem Verbrechen ein Ende setzt. Dieses Warten finde ich bei allen Glaubenden in der Bibel. Und immer ist es schwer, zu warten, wie wir es an Habakuk bemerken:

“Wie lange schreie ich schon zu dir, Jehowah, doch du hörst mich nicht! Ich rufe ‘Hilfe!’ und ‘Gewalt!’, doch du rettest nicht. Warum lässt du mich das Unrecht sehen? Warum schaust du dem Verderben zu? Warum sehe ich nur Frevel und Gewalt, erlebe Zwietracht und Streit?” (Hab. 1:2, 3)

Gott antwortet auf diese vorwurfsvollen Fragen mit der Ankündigung seiner Strafe durch die Babylonier, aber Habakuk will mehr wissen, will wissen, wie lange er noch warten muss. Der Prophet kann sich nicht vorstellen, dass sein Gott unbeteiligt dem Treiben der Bösen zusieht: 

“‘Du hast zu reine Augen, um Böses mit anzusehen, du schaust nicht bei Misshandlungen zu!’, stellt er fest und – wundert sich: ‘Warum lässt du dann diese Räuber gewähren? Warum schweigst du, wenn der Gottlose den Gerechten verschlingt?’” (Hab. 1:13)

Der Prophet bekommt eine Vision und den Auftrag, sie deutlich niederzuschreiben:

“Denn was du schaust, gilt zur bestimmten Zeit, es weist auf das Ende hin, es täuscht dich nicht. Und wenn es sich verzögert, warte darauf, denn es kommt bestimmt, es bleibt nicht aus!

Sieh, die Strafe trifft den, der nicht aufrichtig ist! Doch der Gerechte lebt durch seinen Glauben.” (Hab. 2:3,4)

Gott nennt kein Datum, an dem er das Urteil über die Bösen vollstrecken will; er fordert nur dazu auf zu warten und zu vertrauen, denn der Gerechte wird durch sein Vertrauen davonkommen und leben. Gott erwartet also von seinem Diener Geduld und Vertrauen, denn er betont, “denn es kommt bestimmt, es bleibt nicht aus”. Darum schrieb Jakobus, dass Verheißungen Gottes durch Geduld geerbt werden, und führt weiter aus:

“Nehmt euch die Propheten, die im Namen des Herrn gesprochen haben, als Beispiel. Wie standhaft haben sie ihre Leiden getragen. Ihr wisst ja, dass wir die glücklich preisen, die durchhalten. Von der Standhaftigkeit Hiobs habt ihr gehört und gesehen, wie der Herr ihn am Ende belohnt hat. Der Herr ist voller Mitgefühl und Erbarmen.” (Jak. 5:10, 11)

Die Geduld kann auf eine harte Probe gestellt werden, denn ich weiß von mir, wie quälend es sein kann, auf Gott zu warten. Und ich habe auch erlebt, dass manch ein Gefährte nicht mehr warten wollte und sogar seinen Glauben an Gott aufgab. Da begann ich mich mit der Frage zu beschäftigen, warum  sie die Geduld verloren haben. Ich habe versucht, ihre Motive zu erfahren, aber es war schwer oder manchmal unmöglich. Eine Antwort lautete sinngemäß: “Ich fühle nichts, es sagt mir nichts mehr.” Daraus konnte ich schließen, dass es nicht immer so war. Warum ist es aber anders gekommen? 

Ich habe einmal geschrieben, dass ich Gott nicht verstehe, dass ich nicht begreife, dass er so lange dem Unheil zusehen kann. Ich wusste damals keine Antwort darauf, aber ich habe mich gehütet, aus dem Nichtwissen eine Schlussfolgerung zu ziehen, die dazu geführt hätte, den Glauben aufzugeben. Denn ich kann Schlussfolgerungen nur aus dem ziehen, was ich verstehe. Darum schrieb ich auch, dass ich nicht alles, was Gott betrifft, verstehen kann, ja nicht einmal verstehen muss, aber dass ich immer vertrauen darf! Denn Gott ist als moralische Instanz das Höchste, was ich kenne. Ich kann ihm beim besten Willen nichts Unrechtes zutrauen. Und darum kann ich auch meinen Glauben nicht deswegen aufgeben, weil ich Gott in einer Sache nicht verstehe. Auf der anderen Seite habe ich auch an mir beobachtet, wie leicht die Gedanken in eine falsche Richtung laufen und mich schwach machen können. Darum war ich gezwungen, darüber nachzudenken und Antworten Gottes zu finden, die mich beschützen und bewahren.

Hoffen heißt warten!

Abraham ist für mich ein Vorbild im Glauben, in der Hoffnung und im Warten. Die Erfüllung des göttlichen Versprechens hat er nur in Ansätzen erlebt; das Kommen des Messias und seine Herrschaft im Reich Gottes lagen für ihn in der Zukunft, und doch wurde er im Glauben nicht schwach, denn er wusste, dass Gott nicht lügt. Und ich habe immer die menschliche Größe und das Vertrauen Abrahams bewundert, der darum von Gott als sein persönlicher Freund bezeichnet wurde! Er hat die Stadt Gottes, das Neue Jerusalem, in der Ferne gesehen – und es wurde für ihn zur unumstößlichen Tatsache, zur Wirklichkeit, die er zwar noch nicht erlebte, aber erwarten konnte! So  hat er ein ganzes Leben lang gewartet! Er hat gewartet, ohne die Geduld zu verlieren. 

Sein Glaube machte die Hoffnung zur Gewissheit. Und das ist der Unterschied zwischen Glauben und Unglauben. Der Ungläubige vertraut Gott gar nicht, weil er ihn nicht kennt und ihn nicht als sittliche Person wahrnimmt. Und der im Glauben Schwache zweifelt und wird von seinen Zweifeln daran gehindert, fest zu stehen. 

Wie wartet ein Christ?

Das Motiv des Wartens finden wir auch in den Reden Jesu. In Verbindung mit der Prophezeiung über das Ende dieses Weltsystems erzählte Jesus Gleichnisse, die das Warten und das Wachbleiben im Glauben bekräftigen. Und dabei fällt ein besonderer Aspekt auf: Die Jünger sollten tätig sein, während sie auf ihn warten; sie sollten ihren Glauben lebendig erhalten und dafür ständig beten, damit sie mit der Hilfe Gottes das auch tun könnten.  Das Warten bedeutet also für die Jünger Jesu nicht, dass sie schicksalsergeben dasitzen und einfach nur warten. Im Gegenteil: Immer sollten sie Gottes Reich und seine Gerechtigkeit suchen!

In seinen letzten Ermahnungen an seine Nachfolger betont er den notwendigen Kampf für den eigenen Glauben, die Notwendigkeit, die “Kleider” sauber zu halten, nicht zu lügen, nicht Betrügern zu folgen, die Liebe nicht sterben zu lassen, den Götzendienst zu meiden, falsche Lehren abzulehnen und immer wach und empfänglich für die Äußerungen des Geistes Gottes zu bleiben, indem man in seinem Wort liest. (Offenbarung 2 und 3). Damit hat er jedem viel Arbeit gegeben! Das ist ein Auftrag von dessen Erfüllung das ewige Leben abhängt. Ein Christ wird die Erfüllung der Verheißungen Gottes nur erleben, wenn er im Glauben treu bleibt. Das macht Jesus in jedem seiner sieben Briefe deutlich (Off. 2:7, 11, 17, 26; 3:5, 12, 21). Denn Jesus will, dass in jedem seine Liebe an ihr Ziel kommt. Dafür bietet er seine Hilfe an und steht jedem in seinem Kampf für den persönlichen Glauben bei:

“Weil du meine Aufforderung zur Standhaftigkeit beherzigt hast, werde auch ich dich bewahren in der Zeit der Versuchung, in der die ganze Menschheit den Mächten der Verführung ausgesetzt sein wird.” (Off.3:10)

Denke ich darüber nach, dann wird mein Herz heiß, denn ich weiß, dass ich geliebt werde und nicht mir selbst in meinem Glaubenskampf überlassen bin. Ich habe einen liebevollen Hirten, der mich führt, erzieht und schützt. Ich kann also, während ich auf das zweite Kommen Christi warte, in der Hausgemeinschaft Gottes sein und alle Vorzüge dieser Gemeinschaft genießen. Das ist so stärkend und tröstend, dass ich es kaum fassen kann. Denn ich bin ja nur ein Sonnenstäubchen, ein sündiger Mensch! Aber ich kann diese Erfahrung der Hilfe und der Nähe Jesu und des Vaters nicht aus meinem Bewusstsein verbannen. Es ist Realität! 

Beharrlich beten 

Ich möchte einen Satz aus den Ermahnungen Jesu an seine Jünger noch hervorheben:

“Seid wachsam und hört nicht auf zu beten, damit ihr die Kraft habt, allem, was geschehen wird, zu entkommen, und damit ihr zuversichtlich vor den Menschensohn treten könnt.” (Luk. 21:36)

Wie leicht neigt man dazu, das Beten – und Nachsinnen – zu vernachlässigen! Das erkenne ich an den Aposteln, die mit Jesus zusammen im Garten Gethsemane wachen und beten sollten! Sie sind immer wieder eingeschlafen. Von meiner heutigen Warte aus ist das für mich unfassbar. Aber das sage ich so leicht. Kenne ich mich so genau, dass ich sagen kann: das passiert mir nicht? So will ich diese Episode als Mahnung auffassen und sorgfältig auf mich achten. Denn ich bin mir der Tatsache bewusst, dass niemand aus eigener Kraft standhaft bleiben kann. Ich brauche Gott, ich brauche Jesus –  wirklich! 

Ein wesentlicher Anteil des Gebets muss meiner Überzeugung nach die Dankbarkeit sein. Nur dankbare Menschen möchte Gott in seiner Nähe haben. Das sind dann Menschen, die über sein Handeln in ihrem Leben nachdenken und auf dieser Weise viele Gründe finden, um von Herzen dankbar zu sein. „Wer Dank opfert, verherrlicht mich“, so heißt es in einem Psalm. Dankbarkeit wirkt auf mich zurück; sie macht mich glücklich, sie induziert Freude, Freude an Gott! Und aus der Freude entspringt Kraft für den Glaubenskampf.

Auch mich können Alltagssorgen soweit belasten, dass sie den Glauben ersticken. Der “Rausch eines ausschweifenden Lebens” ist für mich weniger eine Gefahr, aber Ängste und Sorgen könnten mich vom Wesentlichen ablenken. Aber warum sorge ich mich? Warum fürchte ich mich? Wenn ich alles getan habe, was in meiner Macht ist, dann kann ich darüber hinaus nichts weiter tun, als warten. Dann heißt es wirklich auf Gott zu warten! Wenn meine Weisheit am Ende ist, dann kann ich als Christ nur warten. Was nützen dann noch meine Sorgen? Sie ändern nichts! Aber sie lenken mich ab und schwächen mich. Sie rauben mir die Kraft und können mich mutlos machen. Wenn die Sorgen ständig durch das Bewusstsein kreisen, werde ich depressiv und die Freude stirbt. Und dann bleibt für mich noch die Frage offen, ob ich tatsächlich Gottvertrauen beweise, wenn ich mich um Dinge sorge, die weit außerhalb meiner Macht liegen? Stattdessen sollte ich dies bedenken:

Ich habe mich ganz in Gottes Hand gegeben. Ich tat es mit uneingeschränktem Vertrauen, denn ich habe es im Laufe der Jahre durch Erfahrung gelernt. Aus dem Psalm 138 sind mir die Worte lebendig geblieben: 

“Selbst wenn man mich schwer bedrängt, belebst du mich. Du nimmst mich in Schutz vor der Wut meiner Feinde, deine mächtige Hand wird mich retten. Jehowah vollbringt es für mich. Deine Liebe hat niemals ein Ende. Gib die Werke deiner Hände nicht auf!” 

Diese Worte sind bedeutungsvoll! Sie machen mir deutlich, dass ich im Leben bedrängt werden kann, dass schwere Zeiten für mich kommen können und ich um Hilfe schreien muss. Und ich bin sicher, dass mein Rufen gehört und beantwortet wird. Es wird beantwortet, auch wenn es scheint, dass Gott sich Zeit, viel Zeit lässt. Er hat Jesus Christus alle Macht gegeben, und der Sohn Gottes wird sie einsetzen, um auch mein Leben für die Ewigkeit zu bewahren! 

Ich möchte es mir auch abgewöhnen mich zu beklagen, weil ich es als eine Art von Ungerechtigkeit gegenüber Gott empfinde. Ich weiß, dass in der Bibel viele Klagen aufgeschrieben sind, aber für mich sehe ich keinen berechtigten Grund zur Klage. Sollte es sie geben, dann will ich auch daran denken, dass ich in Gottes Obhut bin und dass ich bereit und willens sein will, Schwierigkeiten als Prüfung meines Vertrauens zu Gott aufzufassen. Ich will also in Geduld auf Gott warten.

Aber dies alles unter der Gewissheit, dass Gott mein Vater ist und dass er sich um sein irdisches Kind kümmert. Und wo meine Macht, mein Wirken und meine Weisheit am Ende ist, das setzt Gott an! Ich muss auch daran denken, dass Gott das Recht hat, mich auf die Probe zu stellen. Und ich wünsche ja, dass es geschieht, weil es mich in meinem Glauben bestätigen, erziehen und festigen kann. Nur in belastenden Situationen zeigt sich für einen Menschen, wie fest sein Glaube ist. Auf diese Erfahrung möchte ich nicht ganz und gar verzichten, wenn ich mir auch nicht unbedingt Schwierigkeiten wünsche. Ich möchte es wie Paulus sehen, als ihm von Jesus gesagt wurde: “Meine Gnade muss dir genügen, denn meine Kraft wird in Schwachheit mächtig.” (2. Kor. 12:9) Und dann fährt der Apostel mit diesen tröstenden Worten fort:

“Jetzt bin ich sogar stolz auf meine Schwachheit, weil so die Kraft des Christus auf mir ruht. Deshalb freue ich mich über meine körperlichen Schwächen, ja selbst über Misshandlungen, Notlagen, Verfolgungen und Ängste, die ich für Christus ertrage; denn wenn ich schwach bin, bin ich stark.” (2. Kor. 12:9, 10)

Nur unter dieser Voraussetzung kann man als schwacher Mensch mit Geduld auf die Erfüllung der Versprechen Gottes warten! Wenn man so wartet, dann ist das kein Unglück, wenn man in einer Zeit lebt, in der es eigentlich keinen Wert hat. Denn Gottes Hand hält uns fest und bewahrt uns vor dem Sturz ins Nichts! So hat er auch mich davor bewahrt, der Magie des Bösen zum Opfer zu fallen. Statt dessen hat er mich auf den Weg der ewigen Zeit gestellt.

Veröffentlicht von Tilo

Ein alter Mann, der lange Zeit ein Zeuge Jehovas war und dieser Kirche aus Gewissensgründen den Rücken kehrte. Heute stehe ich allen Kirchen misstrauisch gegenüber, denn glauben kann man nur allein. (amenuensor@aol.com)

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