Kürzlich erzählte mir ein Bekannter eine Geschichte, die mich noch lange beschäftigt hat. Es ist die Geschichte eines erfolgreichen Schriftstellers, der nach Jahren seines Schaffens nachdenklich wurde. Er überdachte noch einmal sein Leben und Schaffen und kam zu einer ernüchternden Feststellung: „Meine Texte haben die Menschen zwar unterhalten, aber ich habe nichts Wesentliches gesagt! Und dabei hätte ich doch etwas zu sagen gehabt, was wichtig gewesen wäre. Warum habe ich das nicht gesagt? Warum fällt mir das erst jetzt ein?“
Dann setzte er sich hin und überlegte. Und was er dann aufschrieb, veröffentlichte er nicht. Er ging in den Wald und las seinen letzten Text den Bäumen vor. Die alten Bäume des Waldes umstanden ihn still. Nur der leise Wind strich durch die Äste. Kein Mensch hörte seine letzten Worte! Danach blieb der Schriftsteller verschwunden und war nicht mehr auffindbar.
Ich habe nicht erfahren, was er im Wald den Bäumen vorgelesen hat. Aber ich fragte mich, was ich an seiner Stelle gesagt haben könnte, nachdem ich mein “Lied” vor der Welt gesungen habe? Ich habe nachgedacht und es fielen mir gewichtige Worte ein, in denen es im Grunde genommen wieder um mich ging. Vielleicht empfand der Schriftsteller ähnlich und drängte danach, etwas über sich zu sagen, was er bisher sorgsam verschwiegen hatte, weil seine Karriere im Vordergrund stand und er die Bewunderung der Leser haben wollte. Vielleicht wollte er einmal – und wenn es das Ende seines Lebens war – seine eigene, nackte und schonungslose Wahrheit über sich selbst sagen?
Und was könnte ich den Bäumen über mich selbst sagen? So als letztes Wort, das Bestand haben und mich in einem kurzen Satz beschreiben könnte, das meine Selbsteinsicht wiedergäbe? Nun bin ich ein Mensch, der es als großes Glück empfindet, dass er glauben darf. Und darum versuche ich, mich immer unter dem wissenden Blick Gottes zu sehen (Ps. 139). Ich stelle mir also lebhaft vor, vor dem Richter aller Menschen zu stehen und unter seinem Blick alles Überflüssige, Falsche, Stolze, Selbstgerechte und Beschönigende zu verlieren, es abzustreifen und den Mut zur letzten Wahrheit meines Lebens zu haben. Und was eignet sich da besser, als das, was Jesus in einem Gleichnis einem bereuenden Sünder in den Mund legte?
“Gott, sei mir gnädig. Ich bin ein Sünder.” (Luk. 18:13)
Mit diesem einen Satz hat – so sagt es Jesus – der Mann seine Meinung über sich vor Gott offenbart, mit der er sich tatsächlich Gott unterwarf und um Gnade bat! Wer um Gnade bittet, hat begriffen, dass er Barmherzigkeit bitter nötig hat! Wer um Gnade bittet, sieht sich im richtigen Licht vor Gott! Er bittet damit auch um Hilfe, um ein besserer Mensch zu werden, zu einem Menschen, der mit seinem Schöpfer in vollkommener Harmonie lebt. Und das soll auch mein Wunsch sein.
Nun besteht bei solchen Geständnissen immer der Verdacht, dass der Sprecher eine Haltung kultiviert, die als gut anerkannt und gewürdigt wird. Aber damit will ich nichts zu tun haben. Mir geht es um die innere Wahrhaftigkeit, um mein privates Eingeständnis vor Gott. Ja, ich kann über meine Gedanken schreiben, ich kann sie beleuchten und ausbreiten, aber wenn ich sie hier nicht für mich behalte, sondern aufschreibe, dann doch in der Hoffnung, dass andere auch angeregt werden, über sich selbst nachzudenken. Im Buch der Sprüche fand ich diesen schönen Gedanken: “Im Spiegel des Wassers erkennst du dein Gesicht, im Spiegel deiner Gedanken aber dich selbst”. Und das ist es, was dann zu Einsichten führt, die uns unseren Platz in der Gegenwart Gottes zuweisen.
Nun habe ich mit dem Eingeständnis, ein Sünder zu sein, nichts Besonderes gesagt. Das sind schließlich alle Menschen. Aber nicht alle sehen es ein, weil ihnen Gott unbekannt ist und sie deshalb keine Verantwortung fühlen. Doch für mich ist diese Einsicht auch schmerzlich und ich bedaure, was ich falsch gemacht habe. Dabei denke ich auch an Jesu Glücklichpreisung aus der Bergpredigt:
“Wie glücklich sind die, die begreifen, wie arm sie vor Gott sind, denn sie gehören dem Reich an, das der Himmel regiert.” (Mat. 5:3)
Wie viele Menschen werden das begriffen haben? Einen kenne ich: Hiob, der Mann aus dem Land Uz. Als er seine Belehrung von Gott erhalten hatte, sagte er nur noch:
“Ich weiß, dass du alles vermagst, kein Plan ist unmöglich für dich. ‘Wer verhüllt da den Rat mit Reden ohne Einsicht?’ Ja, ich habe geredet, was ich nicht verstand. Es war zu wunderbar für mich, ich begriff das alles nicht. Höre doch, ich will nun reden, will dich fragen, dass du mich belehrst. Bloß mit dem Ohr habe ich von dir gehört, aber jetzt hat mein Auge dich geschaut. Darum unterwerfe ich mich und bereue in Staub und Asche.” (Hiob 41:2-6)
Und so sieht ein Armer vor Gott aus! In diesem “darum unterwerfe ich mich und bereue in Staub und Asche” liegt alles, was man vor Gott außer “Danke” noch sagen kann. Ja, ich will ein Armer vor Gott sein! Dabei muss ich einsehen, dass es ein Weg dahin ist, der über Erfahrungen und Einsichten zum Ziel führt. Aber ich darf zuversichtlich sein, denn was Gott von mir erwartet, will ich gern erfüllen.
Dazu gehört nach meiner Ansicht, dass man wie ein Kind wird, das von seinem Vater alles erwartet, was gerecht und wahr ist, ein Kind, das sich seiner Abhängigkeit bewusst ist und mit vollem Vertrauen zum Vater aufblickt, weil es sich in seiner Gegenwart gut aufgehoben fühlt. So ein Kind diente Jesus als Beispiel, als er sagte, dass man so werden müsse wie ein Kind: “Gottes Reich ist ja gerade für solche wie sie bestimmt. Ich versichere euch: Wer Gottes Reich nicht wie ein Kind annimmt, wird nie hineinkommen.” (Luk.18:16, 17) Und das hat Jesus gesagt, nachdem er wieder einmal einen Rangstreit unter seinen Aposteln miterleben musste.
So ein Kind Gottes stellt sich selbst nicht in den Mittelpunkt. Es kennt seine Begrenztheit. Und es hat keinen Sinn für Konkurrenz und Wetteifern, kein Gefallen an Geltungsbedürfnis und Stolz. Darum vertraut ein Kind Gottes nicht auf die eigenen Fähigkeiten und ist nicht der Meinung, jedes Problem selbst lösen zu können. Es kann in Ruhe und Vertrauen auf Gott warten! Ja mehr noch! Es kann das ausleben, was es im Brief des Petrus liest:
“Demütigt euch unter Gottes mächtige Hand, dann wird er euch zur richtigen Zeit erhöhen. Und werft so alle eure Sorgen auf ihn, denn er sorgt sich um alles, was euch betrifft.” (1. Pe. 5:6, 7)
Diesen Text möchte ich gern verinnerlichen, will erreichen, dass er ein Teil von mir wird. Ich kenne ihn schon lange Zeit, aber erst jetzt, wo ich alt geworden bin, ist sein tiefer Sinn in mir aufgegangen. Es war so, wie beim roten Fingerhut: Der Same dieser Wildpflanze kann viele Jahre in der Erde liegen – und warten. Er wartet, bis Licht auf ihn fällt, dann keimt er und wächst. So habe ich den Eindruck, dass erst Gottes Geist das passende Licht auf den Text werfen musste, damit der Sinn in meinem Herzen aufgehen konnte. Und welch ein Reichtum ist da entstanden! Ich muss nicht mehr ‘ängstlich umherblicken’ und mich fürchten. Ich darf der Zusicherung Gottes vertrauen:
“Schau nicht ängstlich nach Hilfe aus, denn ich, dein Gott, ich stehe dir bei! Hab keine Angst, denn ich bin dein Gott! Ich mache dich stark und helfe dir! Ich halte dich mit meiner rechten und gerechten Hand. … Denn ich bin Jehowah, dein Gott. Ich fasse dich bei der Hand und sage zu dir: ‘Fürchte dich nicht! Ich selbst, ich helfe dir!’” (Jes. 41:10, 13)
So schaue ich wie ein kleiner Junge mit warmen Herzen auf meinen Vater im Himmel. Denn ich weiß, dass er für mich sorgen wird. Ich muss keine Furcht haben! Statt dessen habe ich einen nie gekannten Frieden geschenkt bekommen, ein Friede, so mächtig wie ein breiter Strom und so tief wie das Meer. Es ist der Friede unter der mächtigen Hand Gottes!
Unter diesem Frieden wächst das unbedingte Vertrauen zum Vater im Himmel. Und dann weiß ich, dass viele Probleme meines Lebens nicht von mir gelöst werden können, denn ich bin nur ein armer Mensch, ein Sünder. Da kommt es für mich darauf an, auf Gott zu warten, auf seine Lösung zu warten. Der “Arme vor Gott” kennt aus Erfahrung seine Begrenztheit, seine Machtlosigkeit und seine Grenzen. Das ist letztlich Bescheidenheit, wie sie in Micha 6:8 gefordert wird:
“Er hat dir gesagt, was gut ist. Und was fordert dein Gott von dir zurück, als Güte zu lieben, Recht zu üben und bescheiden mir deinem Gott zu wandeln?”
“Lass mich wie einen deiner Lohnarbeiter sein”
Wenn ich an Jesu großartiges Gleichnis vom verlorenen Sohn denke, dann wird mein Herz weit und warm. Denn auch ich fühle mich wie der verlorene Sohn, der nach einer Irrfahrt durchs Leben endlich wieder zu Hause bei seinem Vater sein darf. Es ist doch eine Tatsache, dass meine Sünden meinem Vater nicht gefallen, dass sie ihm weh tun und er Besseres von mir erwarten darf. Das Beharren in der Sünde würde mich von ihm trennen, doch ich darf ihn mit “Vater” anreden! Ich darf darauf vertrauen, dass meine Sündenschuld getilgt ist, weil Jesus für mich gelitten hat! Darum darf ich “Vater” sagen.
Das ist für mich eigentlich unfassbar! Es ist so unfassbar, wie Gottes Größe! Gott kann viele Namen haben, aber kein Name wird seiner Person gerecht. Die Namen sind schwache Versuche des Menschen, den Unbegreiflichen, Allmächtigen und Unsichtbaren greifbar zu machen. Unser Verstand braucht Namen, braucht Begriffe. Aber Gott ist darin nicht fassbar. Das hat auch schon Hiob gewusst, als er sagte, dass wir von den Säumen der Wege Gottes nur ein Geflüster hören und den Donner seiner Macht nicht verstehen (Hi. 26:5-14).
Das kann dazu führen, dass man sich völlig unbedeutend und sehr klein vorkommt und Gott in weite Ferne rückt. So haben es auch Psalmenschreiber empfunden, wenn ich Äußerungen wie diese lese: “Du bist so weit weg!” (Ps. 71:12) “Denke ich an Gott, so stöhne ich.” (Ps. 76:4) “Ich bin doch nur ein Gast bei dir, ein Fremder wie alle meine Väter.” (Ps. 119:19; 39:13) “Schau weg von mir, damit ich aufatmen kann, bevor ich gehen muss und nicht mehr bin.” (Ps. 39:14)
Aber dann dies: “In nächtlichen Stunden auf meinem Bett, gehen meine Gedanken zu dir. Flüsternd sinne ich über dich nach, denn du bist mir Hilfe gewesen. Ich juble im Schutz deiner Flügel. Ich klammere mich an dich, und deine rechte Hand hält mich fest.” (Ps. 63:7-9) Darin leuchtet die Barmherzigkeit Gottes auf! Das gibt mir Mut! Das lässt mich hoffen und vertrauen! Das macht mich groß, auch als Bettler vor Gott. Gottes Barmherzigkeit gilt auch mir, einem Sünder. Und dadurch wertet Gott mich auf! Es ist dann so, wie es im 18. Psalm steht: “Du gabst mir den Schild deines Heils, und deine Hand hat mich gestützt. Deine Demut machte mich groß!”
Wo wohnt Gott?
Ich habe Gottsucher gefragt, wie man zu Gott kommt. Seine Antwort: “Er wohnt nicht in der Zeit. Er ist Herr der Zeit. Er war, er ist und er wird sein! Es gibt keinen Ort, an dem du dir Gott denken kannst, denn er wohnt außerhalb von Zeit und Raum. Und doch wohnt er bei dem, der niedrigen Geistes ist. Er wohnt bei denen, die wissen, wie arm sie vor ihm sind. Gott wohnt dort, wo deine Dankbarkeit ihren Widerhall findet. Je mehr Gründe du zum Danken hast, umso näher kommst du Gott!.” Und ich glaube er hat Recht.
So bin ich am Ende nur noch dankbar, dass ich als Bettler vor Gott stehen darf, dass ich die starke Hoffnung habe, durch Jesus Christus ganz und gar mit Gott versöhnt zu sein. Und dann habe ich keine anderen Wünsche. Das Wesentliche ist für mich da: Ich darf “Vater” sagen. Der verlorene Sohn ist zu Hause – als Bettler, als Armer vor Gott.