“Ich wohne in der Höhe, in unnahbarer Heiligkeit, doch ich bin auch den Zerschlagenen nah, deren Geist niedergedrückt ist, und belebe den Geist dieser Gedemütigten neu, richte das Herz der Zerschlagenen auf.” (Jes. 57:15)
Wenn ich hier zu schildern versuche, wie ich Glaube erlebe und wie es sich anfühlt, dann kann ich das Gebet, das Gespräch der Seele mit Gott, nicht aussparen.
“Lehre uns beten”
Die ersten Jünger, die Jesus um sich versammelt hatte, waren Juden. Sie gehörten also zum Bundesvolk Gottes und verrichteten im Tempel zu Jerusalem auch ihre Gebete. Wenn man das weiß, dann fragt man sich, warum sie Jesus baten, sie beten zu lehren. Es muss ihnen an den Gebeten Jesu aufgefallen sein, dass sie so ganz anders waren, als das, was sie aus der allgemeinen religiösen Praxis kannten. Und Jesus nimmt auch auf das Bezug, was sie fast täglich erleben konnten: Die Pharisäer, die die prominenteste jüdische Sekte bildeten, legten ganz großen Wert auf den schönen Schein. Darum beteten sie gerne in der Öffentlichkeit, an Straßenecken und auf Plätzen. Das sollte dazu dienen, allen zu zeigen, wie fromm sie waren, aber Jesus hat gerade das an ihnen kritisiert und seine Jünger davor gewarnt, sie nachzuahmen.
Was haben die Pharisäer aus dem Gebet zu Gott gemacht? Es wird berichtet, dass sie auf die Idee kamen, für jeden Zweck und für jeden Anlass ein spezielles Gebet zu formulieren, das sie als verbindlich ansahen. Jede Abweichung vom vorgegebenen Text machte das Gebet unwirksam! Auf diese Weise wurde das Gebet zur religiösen Pflichtübung! Auch wenn Texte aus dem Pentateuch mit eingeflochten waren, war es nur eine Formsache, an der das Herz des Betenden selten Anteil hatte. Das Gebet verkam zur Rezitation. Und dabei hatte man doch die Psalmen, die als Vorbild hätten dienen können. Und wie anders waren die Psalmengebete, wo Menschen ihr Herz vor Gott öffneten und sagten, was sie bewegte, wo Raum war, in dem sich der Geist des Betenden vor Gott völlig öffnen konnte. Das haben die Pharisäer abgeschafft und durch Formeln ersetzt, die einfach so dahin gesprochen werden konnten. Ein Gespräch der Seele mit Gott war damit unterbunden.
In der Praxis vieler Religionen ist das Gebet zur frömmelnden religiösen Pflichterfüllung geworden. Der Gläubige hat die Pflicht, zu bestimmten Zeiten zu beten. Auch hier sind die Gebete oft vorformuliert. Unzählige Wiederholungen des immer Gleichen (10 “Vater-unser”, 20 “Ave-Maria!”) machen aus dem Gespräch mit Gott ein leeres Gerede, weil mit dieser Pflichtübung der private Charakter und die persönliche Beziehung zu Gott gar nicht entstehen kann. HIer kann man sein Herz nicht öffnen und sagen, was in einer bestimmten Situation angebracht wäre. Solchen Übungen fehlt also die Verbindung mit Gott, die ja durch ein persönliches Gebet hergestellt wird.
Das Gebet ist eine Gnade, keine Pflicht!
Durch den Tod Jesu sind Christen völlig mit Gott versöhnt worden. Darum können sie freimütig und ohne falsche Scheu zu Gott reden. Dieses Glück der Vergebung macht den Betenden frei und es ist ihm ein Bedürfnis von Zeit zu Zeit mit seinem Vater im Himmel zu sprechen. Für ihn gilt: “Wer dich liebt, der bete, wann immer er dich antreffen kann.” (Ps. 32:6) Und er tut es dann auch, weil er weiß, dass Gott wirklich zuhört. Er hat folgende Zusicherung: “Ich will dich belehren, und ich zeige dir den richtigen Weg. Ich will dich beraten und ich behalte dich im Blick.” (Ps. 32:8)
Wenn das Gebet eine Gnadengabe Gottes an den Menschen ist, dann nur unter der Voraussetzung, dass man Frieden mit Gott hat. Das wird uns schon in alten Texten der Bibel deutlich gemacht. Ich denke hier an Jesaja 55 und möchte auf einige Gedanken näher eingehen:
“Sucht Jehowah, solange er sich finden läßt! Ruft ihn an, solange er euch nahe ist!”
Das ist eine Einladung Gottes an uns Menschen. Es ist mir wichtig, das zu betonen, denn Gott fordert das Gebet nicht wie eine zu erfüllende Pflicht, sondern lädt dazu ein. Aber er stellt auch eine Bedingung:
“Der Gottlose verlasse seinen Weg, der Schurke seine schlimmen Gedanken! Er kehre um zu Jehowah, damit er sich seiner erbarmt, zu unserem Gott, denn er ist im Verzeihen groß!”
Wie tritt man vor Gott?
Gott streckt also den Sündern seine Hand hin und ist zum Vergeben bereit, wenn sie bereuen, was sie falsch gemacht haben. So macht man Frieden mit Gott. Nach dieser Einladung an die Sünder macht Gott den Menschen deutlich, mit wem sie es eigentlich zu tun haben, wenn sie ihn anrufen:
““Meine Gedanken sind nicht wie eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege!”, spricht Jehowah. “Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so weit reichen meine Gedanken über alles hinaus, was ihr euch denkt, und meine Möglichkeiten über alles, was für euch machbar ist:””
Als der Prophet Jesaja in einer Vision Gott auf seinem Thron gesehen hatte, war er so erschüttert, dass er sagte; “Weh mir! Ich bin verloren! Ich habe den König gesehen, Jehowah, den allmächtigen Gott. Und ich habe doch besudelte Lippen und wohne unter einem Volk, das durch seine Worte genauso besudelt ist!” (Jes. 6:5) Er kam sich also völlig unwürdig vor, den Allmächtigen sehen zu dürfen. Ihm war schlagartig deutlich geworden, mit wem er es zu tun hatte. Das ist ein heiliger Respekt, den wir bei verschiedenen Personen in der Bibel finden. Und mit diesem Respekt sollte, so denke ich, ein Betender vor Gott erscheinen. Er sollte sich demütigen und in seinem Sinn die Stellung einnehmen, die für ihn angemessen ist. Denn das sagt die Schrift ganz deutlich: Gott schaut auf den Demütigen und verachtet den Stolzen.
In diesem Zusammenhang muss ich auch daran denken, dass Gott ‘Gefallen an Wahrhaftigkeit im geheimen Ich’ hat. Ich kann also nur so vor ihn treten, wie ich als “nackter” Mensch bin: Im Gewissen kann ich nichts beschönigen, habe keine faulen Ausreden und kann dem Höchstem auch nicht ausweichen. Ich bin sowieso ein offenes Buch für ihn (Ps. 139) Also will ich ehrlich zu mir und zu ihm sein. Jede Heuchelei ist überflüssig und für das Verhältnis zu Gott nur störend.
Jesus hat diese Haltung betont, wenn er in einem Gleichnis einen stolzen Pharisäer und einen verachteten Steuereinnehmer beten lässt. Der Pharisäer lobt seine eigenen Vorzüge, gibt an und blickt verächtlich auf den Steuereinnehmer. Er fühlt sich anderen Menschen hoch überlegen und leitet aus seiner Einbildung ab, dass Gott sehr zufrieden mit ihm sein müsste. Aber Jesus gibt dem reumütigen Steuereinnehmer das gute Zeugnis, dass er vor Gott gerechter sei als der Pharisäer, denn die Worte “Oh Gott! Sei mir einem Sünder gnädig!” beweisen ja, dass er Gottes ausgestreckte Hand ergriffen hatte.
Der Segen Gottes
Der Prophet Jesaja musste sich nicht mehr fürchten als er Gott gesehen hatte, denn Gott ließ seine Lippen rein werden und vergab großzügig (Jes. 6:6, 7). Christen haben durch Jesus Christus die Versöhnung mit Gott erfahren und können ohne Scheu und Furcht zu Gott beten und können darauf hoffen, dass sich an ihnen das erfüllt, was Jesaja im 55. Kapitel weiter ausführte:
“So ist es auch mit meinem Wort: Es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will, und führt aus, was ich ihm aufgetragen habe. ” (Jes. 55:11
Worauf darf ich vertrauen?
Es kommt für mich nur darauf an, dass ich zu Gott, meinem wirklichen Vater, ein tiefes, kindliches Vertrauen habe. In seiner Bergpredigt macht es Jesus deutlich, wenn er dazu auffordert, sich keine unnötigen Sorgen zu machen, weil der Vater im Himmel die Bedürfnisse seiner Kinder kennt und bereit ist, für sie zu sorgen. Dieses Vertrauen wurde mir während meines Lebens immer wieder durch Erfahrung gestärkt. Und denke ich zurück, dann habe ich keinen Grund an meines Vaters Zuverlässigkeit und Liebe zu zweifeln! Nein, ich habe “geschmeckt”, wie gut und liebevoll er ist!
Ich darf mich voller Vertrauen in Gottes Hand geben. Ich muss nicht furchtsam sein, denn mein Vater “wird vollenden, was zu meinen Gunsten ist”. Meine Sorgen sollten sich auf meinen persönlichen Glauben richten, denn ich bin davon überzeugt, dass mein Vater es verdient, in Ehrfurcht und Demut von mir geliebt zu werden.
So kann ich ihn auch niemals als meinen persönlichen “Dienstboten” sehen, der meine kleinlichen Wünsche erfüllt. Ich muss ihm nicht sagen, was er zu tun hat! Ich habe einfach kein Recht Forderungen zu stellen. Denn ich bin von seiner Liebe überzeugt worden und weiß, dass er immer das tun wird, was für mich gut ist! Sein Handeln mit mir wird immer von Liebe und Gerechtigkeit bestimmt sein. Ob ich das immer verstehe, ist gleichgültig. Aber dies ist sicher: Am Ende wird es immer gut für mich gewesen sein. Auch das entspricht bis heute meiner persönlichen Erfahrung.
Und ich habe auch gelernt, dass das Gebet kein Ersatz für das eigene Handeln ist. Was ich selbst tun kann, muss ich auch tun. Diese Arbeit wird mir mein Vater nicht abnehmen. Nur dort, wo meine Macht und meine Weisheit am Ende sind, da kann ich auf Gottes Hilfe hoffen. Im Laufe der letzten Jahre sind meine Bitten weniger geworden, denn ich habe bemerkt, wie Gott mir beigestanden hat. Ich habe viele Gründe zur Dankbarkeit, denn seine Barmherzigkeit und seine Geduld mit mir waren groß. Und ich habe gelernt geduldig zu sein. Manche Bitte ging lange nicht in Erfüllung, bis sie eines Tages doch erfüllt wurde. Und dann war ich überwältigt und dankte mit Tränen in den Augen.
Eine Warnung des Jakobus
Es wird viel gebetet, aber man gewinnt den Eindruck, dass Gott die meisten Gebete nicht beachtet. Ein Grund mag sein, dass sie mit einem falschen Motiv gesprochen werden. Darauf macht der Jünger Jakobus aufmerksam, wenn er im 4. Kapitel auf die Ursache von Krieg und Streit hinweist: “Und selbst, wenn ihr betet, bekommt ihr nichts, weil ihr in böser Absicht bittet und nur eure Gier befriedigen wollt.” (Jak. 4:3) Der ganze Gedankengang in den Versen 1 bis 10 ist ja an Christen gerichtet! Er ist an Christen gerichtet, die die Grundlage ihres Glaubens schon verlassen hatten und sich einbildeten, dass Gott noch mit ihnen zu tun haben wollte. Sie irrten sich! Und darum fanden ihre Gebete bei Gott kein Gehör. Wenn ich diese Warnung auf mich beziehen will, dann muss ich darauf achten, kein “Freund der Welt” zu sein, denn das trennt mich ganz deutlich von Gott.
“Seid wachsam!”
Weil ich in einer gottlosen Welt lebe, muss ich um meinen eigenen Glauben kämpfen. Jesus hat mich und alle anderen Jünger, die als Einzelne glauben und dem bösen Einfluß dieser Welt widerstehen wollen, eine ernste Ermahnung und Zusicherung mit auf den Lebensweg gegeben:
“Seid wachsam und hört nicht auf zu beten, damit ihr die Kraft habt, all dem, was geschehen wird, zu entkommen, und damit ihr zuversichtlich vor den Menschensohn treten könnt.” (Luk. 21:16)
Weil das Gebet eine Verbindung zu Gott herstellt und er auf seine irdischen Kinder achtet, kann man nur mit seiner Kraft, die alles übersteigt, was ein Mensch von sich aus kann, den Glaubenskampf gewinnen. Davon bin ich durch Erfahrung zutiefst überzeugt! Und ich weiß ganz genau, dass das Gebet wie eine Nabelschnur ist, die mich mit Gott verbindet und mich mit dem Lebenssaft des Glaubens versorgt: mit dem heiligen Geist.