Oblomowa

Oder: Die Macht der Feigheit

Irgendwo am Ende der Welt, wo Gestern und Morgen  zusammenstoßen und die Zeit, die böse Zeit, die alles verändern will, stehen geblieben ist, liegt ein Ort, der für viele Menschen ein Sehnsuchtsort ist, eine geistige Heimat: Oblomowa. 

In Oblomowa stehen scheinbar alle Uhren still. Das Leben geht unmerklich seinen Gang, langsam, unaufgeregt, ohne böse Überraschungen und ohne krasse Übergänge. Dieses Leben wird weder von Zweifeln noch von inneren Unruhen gestört. Es ist ein berechenbares, klar zu überblickendes Leben. Alles hat hier seinen unveränderlichen Platz, alles hat seine Ordnung und für alles, was unvorhergesehen geschieht, gibt es zufriedenstellende Erklärungen. Man muss in Oblomowa nicht selbst nachdenken. Für alle Probleme gibt es eine vorfabrizierte Lösung, die nur die Führung weiß, auf die man sich blind verlässt. Die Führung garantiert Stabilität. Sie ist über jeden Zweifel erhaben. Sie strahlt Stärke und Entschlossenheit aus. Sie flößt Vertrauen ein. Die Leute von Oblomowa wünschen sich in der Tiefe ihres Herzens eine Führung, die ihnen in einer unsicheren Welt Sicherheit und  Halt garantiert. Wer sollte es sonst tun? 

Denn die Bürger von Oblomowa sind süchtig nach innerer Harmonie, nach Wohlbefinden, Ruhe und nochmals Ruhe, und sei es auch nur eine scheinbare. Darum haben sie sich angewöhnt, alle beunruhigenden Fragen nicht zu stellen. In ihre friedliche kleine Innenwelt  lassen sie keinen kalten Luftzug hinein. Sie haben eine panische Furcht sich zu erkälten. Alles, was ihren inneren Frieden stören könnte, wird ausgeblendet oder abgewehrt. Die außerhalb von Oblomowa liegende Welt ist für sie zu kompliziert und darum feindliches Ausland. Und sollte doch einmal ein kühler Luftzug ihre schwarz-weiße Weltsicht verändern und stören wollen, dann erklären sie ihn schnell zur Täuschung oder zum Irrtum. So haben sie sich eine Rüstung angezogen, die alles abwehrt, was ihr Weltbild beschädigen und  ihrer Sucht nach innerer Harmonie und Sicherheit im Wege stehen könnte.

Sie wollen die “Welt da draußen” nicht. Sie ist ihnen unheimlich und bedrohlich. Darum leiden sie an Heimweh und sind Nostalgiker. Sie suchen immer das idealisierte Reine, Edle und Gerechte, das ihren Vorstellungen entspricht. Ihr Weltbild ist so stark vereinfacht, dass es schon einen Märchenglanz hat. Und sind bereit, einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Sie bezahlen mit Gedankenlosigkeit und Realitätsverlust, mit Leichtgläubigkeit und Denkschlamperei. Die “Welt da draußen” betrachten sie als feindlich und sie sind empfänglich für Feindbilder, die man ihnen einredet. Sie glauben das und geben die Schuld am eigenen Versagen gerne anderen. Wer nicht so denkt wie sie, ist ein Mensch, der unter allen Umständen zu meiden ist. 

Haben die Leute von Oblomowa eine Religion, etwas Spirituelles? Das muss man sich schon fragen, denn genau zu erkennen ist es nicht, wenn man das Formelle einer Glaubensgemeinschaft, der die meisten ja angehören, außer acht lässt und sich fragt, wie es mit den guten Früchten aussieht. Es scheint damit nicht weit her zu sein, wenn man sich die Welt ansieht, die ja auch von den Leuten aus Oblomowa mitgestaltet wird. So wie die Welt sich darstellt, kann man nicht davon ausgehen, dass sie von unveränderlichen moralischen Gesetzen geleitet wird. Aber daran sind ja – so sagt man in Oblomowa – die anderen schuld. 

Zum Traum von Oblomowa gehört auch die Sucht nach eigener Größe und Bedeutung. Und weil die meisten Träumer selbst nicht groß und bedeutend sind, soll es der Fußballklub, der Kegelverein, die eigene Familie, die eigene Stadt oder das eigene Land sein. Diese Sehnsucht wird gerne von Populisten bedient: Sie versprechen lautstark und großmäulig die eigene Gemeinschaft, die eigene Kirche und das eigene Land groß und größer zu machen, wenn man sie nur an die Macht ließe. Sie versprechen es mit einfachen, klaren und tausendfach wiederholten Sätzen, die so einfach sind, dass sie jedes schwache Gehirn verstehen und jedes verirrte Herz glauben kann. Und man vergisst gerne, dass man solche Parolen scho zu oft gehört hat und dass sie nicht in Erfüllung gingen. Und auch dies gehört zum Leben in Oblomowa dazu: Der unerschütterliche Glaube, dass es diesmal wirklich besser werde: “Einmal muss es doch sein!”

Wo ist Oblomowa? Dieser schöne, ruhige und friedliche Ort, dieses geistige Paradies, kann überall sein. Überall? Wie kann das sein? Doch, es kann überall sein, weil jeder Mensch sich dieses Paradies selbst schaffen kann, wenn ihm die Friedhofsruhe lieber ist, als der lärmende Marktplatz, wenn er dem Leben nicht gewachsen ist und er zu diesem Ort der seligen Ruhe flüchten will. Er muss dazu nur sein Gewissen abschalten, seine Augen schließen, seine Ohren verstopfen und nur das in seinen Kopf hineinlassen, was die Führung sagt. Er muss sich in einen Kokon einspinnen und nur fest daran glauben, dass die Führung eine höhere “Natur” hat als der Durchschnittsmensch, über besondere Fähigkeiten verfügt  und genau weiß, wo die Reise hingehen soll. Der Leitspruch der Leute von Oblomowa lautet: “Vertraue nur der Führung und nicht deinem eigenen Verstand!”

Oblomowa ist leider eine Realität. Die Leute von Oblomowa sind überall zu finden. In allen religiösen, esoterischen, wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaften finden sie sich. Doch diese scheinbar so unerschütterbaren Menschen, die so versessen sind auf ein angenehmes Leben der  Ruhe und der Häkeldeckchen, sind für sich allein vielleicht harmlos. Aber! Sie machen Diktaturen, Terror, Kriege, Ausbeutung, Kriminalität und Völkermorden möglich, weil die Harmoniesucht sie erpressbar macht, weil ihre Feigheit sie lähmt, weil Angst  vor der Macht der Führung sie beherrscht. So sind sie relativ leicht und in großer Zahl als Mittäter an Verbrechen zu gewinnen. Gewaltherrscher, Diktatoren und Populisten sehen hier ihre Chance ganz nach oben zu schwimmen.  Und noch eine tief verwurzelte Angst beherrscht sie: Es ist die Angst, plötzlich das eigene Weltbild zu verlieren. Darum verteidigen sie es mit dem Wort: “Das ist die Wahrheit! Es gibt keine andere!”

Auch wenn sie zur Nacht beten “Ich bin klein, mein Herz ist rein,…” oder sich selbst sagen, dass sie nichts falsch gemacht haben und mit dieser “Schlafpille” zur Ruhe gehen, werden sie doch ganz böse erwachen.

Veröffentlicht von Tilo

Ein alter Mann, der lange Zeit ein Zeuge Jehovas war und dieser Kirche aus Gewissensgründen den Rücken kehrte. Heute stehe ich allen Kirchen misstrauisch gegenüber, denn glauben kann man nur allein. (amenuensor@aol.com)

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