“In meiner Not suche ich den Herrn,
nachts strecke ich meine Hand nach ihm aus
und lasse ihn nicht los.
Ich bin untröstlich.
Denke ich an Gott, so stöhne ich,
sinne ich über ihn nach, verliere ich den Mut.”
(Psalm 77:3, 4)
In den Psalmen erscheint hin und wieder der Gedanke, dass Gott dem Betenden so weit weg erscheint, als hätte er sich abgewandt. Ein Gefühl des Verlassenseins überfällt den Betenden. Wenn ich jetzt darüber schreibe, wie ich dieses Gefühl kennengelernt habe, dann soll auch dies eine Antwort auf die Frage sein, wie sich Glaube anfühlt.
Die Majestät Gottes macht mich still
Schon lange denke ich über die Majestät des Schöpfers nach. Und ich muss immer wieder feststellen, dass seine Größe für mich weder fassbar, noch zu beschreiben ist. Meine Sprache ist auch der Ausdruck meiner menschlichen Beschränkung; sie ist unscharf und kann nur mit Ausdrücken umgehen, die meinem Horizont entsprechen. Meine Sprache zeigt die Begrenztheit meiner Welt, meiner Sicht auf sie und meine Unfähigkeit, den Horizont zu überschreiten. Ich bin gefangen im Sein und begrenzt im Ich. Dagegen ist Gott, der allmächtige Schöpfer, so überragend wie die Sonne gegenüber meiner kleinen ‘Kerze’. Diese Einsicht kann dazu führen, dass man sich unwürdig und bedeutungslos fühlt. Dazu kommt dann noch die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit. Auch sie kann kleinlaut machen und den Mut rauben, überhaupt zu Gott zu beten.
Daher ist mein Gebet manchmal nur ein Stammeln, Seufzen und Flüstern. Denn was soll ich noch meinem Vater sagen, der alle meine Gedanken und Gefühle kennt? Was soll ich reden, wenn ich mich als unbedeutend empfinde und mich in gewisser Weise schäme? Am deutlichsten kann ich danken, danken und immer wieder danken. Ich fühle mich als armer, alter Mann, der nur noch den einen Wunsch hat: “O Gott, sei mir, einem Sünder, gnädig!”
“Denke ich über dich nach, verliere ich den Mut.”
Ich hatte kurz den Mut verloren und wusste mit meinen Gedanken über Gott nicht richtig umzugehen. Ich war niedergeschlagen und zerrissen. Ich war traurig und stumm und hatte nicht mehr den Mut, meine Augen zum Höchsten zu erheben. Nachdem Asaf auch dort angekommen war, sagte er: “Ich bin verstört und kann nicht reden.” Er beließ es aber nicht dabei, sondern begann sich an frühere Zeiten zu erinnern, wo er fröhlich vor Gott war. Und als er in diese Richtung über Gott nachdachte, bekam er wieder sicheren Boden unter seine Füße. Er musste feststellen, dass Gott in seinem Handeln heilig ist und seine Wunder an den Menschen vollbringt. Asaph fasste wieder Mut, weil sich Gott in der Vergangenheit als ein Gott voller Barmherzigkeit und Liebe erwiesen hatte. War es in meinem Leben anders?
Nachdenken über mich selbst nahm mir den Mut
Wenn einem im Leben so manches gut gelingt, kann man sich allzu leicht daran gewöhnen und beginnen, es sich selbst zuzuschreiben. Man ist stolz auf sich. Und dann kann es passieren, dass eines Tages die Einsicht reift, dass man sich zu viel eingebildet hat. Man hat auf die eigene Kraft vertraut und auf das eigene Wissen. Plötzlich steht man vor irgendeinem Problem. das man eben nicht lösen kann, dass einen schlicht unlösbar scheint und einem deutlich zeigt, wie begrenzt und machtlos man ist. Dann wird alle Einbildung zu Asche. Plötzlich weiß man, wer man ist.
Die Nähe zu Gott ist keine Selbstverständlichkeit
Auf meinem Weg durch das Leben mache ich immer wieder neue und auch befremdende Erfahrungen. Darüber bin ich nicht traurig, im Gegenteil, ich werde bereichert, wenn ich sie machen darf und darüber konsequent und mit dem Wort Gottes vor Augen nachdenke. Denn Glaube bedeutet für mich die ständige und selbstkritische Auseinandersetzung damit, weil das Leben so wechselhaft ist und sich jeder dabei verändert. Wenn ich alte Bekannte treffe, frage ich manchmal: “Was macht die Zeit aus uns?” Aber zuerst stelle ich diese Frage mir selbst, weil ich mit Verantwortung vor Gott leben möchte.
Als Moses und Aaron sich bei Meriba im Ton vergriffen und sich selbst in den Vordergrund rückten, mussten sie erleben, wie Gott reagierte. Sie hatten für einen Moment den Gedanken, genau wie Gott handeln zu können, als sie Wasser aus dem Felsen sprudeln ließen. Dieses Vertrauen auf die eigene Fähigkeit wird von Jakobus kritisiert, und es ist gotteslästerlich (Jak. 4:13-16). Auch wenn ein Vorhaben dem eigenen Willen entspringt, ist doch die Kraft, die Fähigkeit und alles, was zur Tat führt, auf Gott zurückzuführen. Der Psalm 127:1 drückt es gut aus: “Wenn Jehowah das Haus nicht baut, ist es umsonst, wenn die Bauleute hart daran gearbeitet haben.” Deshalb sollte ich sagen: “Wenn Jehowah will, werde ich dies oder jenes tun.” Wer das sagen kann, bringt zum Ausdruck, dass er im Sinne Gottes leben und handeln will. So anerkennt man die Majestät Gottes! So hat Jesus es mir vorgelebt (Joh. 5:19, 30). Er lebt und handelt bis heute in vollkommener Harmonie mit seinem Vater! Das ist Gottverbundenheit! An dieser Stelle musste ich innehalten und über mich nachdenken. Und das war mit ein Grund für mein Stillwerden vor Gott, denn ich hatte auch dadurch den Mut verloren, weil ich von mir enttäuscht war und mich schämte.
Dabei aber will ich es nicht bewenden lassen und in Schweigen verfallen. Ich will mir deutlich machen, dass ich doch einen gewissen Wert bei Gott habe. Mein Leben in einer Welt wie dieser und mein Älterwerden, verbunden mit Zerfall und Krankheiten, erfordert Mut. Und diesen Mut habe ich nur, wenn ich eng mit Gott und seinem Sohn verbunden bin. Ich darf mutig sein, wenn ich ganz auf Gott vertraue. wenn ich mit dem Vertrauen alle Ängste und Befürchtungen besiege und immer vor Augen habe, dass Gott treu ist. Ich muss mich eigentlich nicht so unbedeutend fühlen, dass mir jeder Mut vergeht, denn ich durfte ja ein Kind Gottes werden. Und was gibt es Größeres für mich? Nein, unwichtig und bedeutungslos ist kein Kind Gottes. Im Gegenteil, sie sind der Mittelpunkt des Interesses Gottes auf dieser Erde! Was auch geschieht, es vollzieht sich die Geschichte so, wie sie prophezeit worden ist und Gott hat durch Jesus Christus seine Kinder dabei immer im Blick.
Ich frage mich, warum gläubige Menschen das Gefühl haben können, dass Gott in weite Ferne gerückt sei, wenn sie sich doch genau erinnern, dass es vorher nicht so war. Ich will hier nicht von notorischen Sündern reden, von denen Gott sich zurückzieht. Nein, ich denke an Menschen, die Gott vertrauen und sich daran gewöhnt haben, mit ihm zu “gehen”, wie es bei Asaph bestimmt der Fall war. Asaf war nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem ratlos, entwurzelt und ohne Verständnis. Warum musste das sein? Warum konnten nun andere Völker Israel verhöhnen und fragen: “Wo ist denn euer Gott?” Er verstand Gottes Handeln erst, als er nachdachte und sich an die Heiligkeit Gottes und an sein Wort erinnerte, d. h. sich Gottes Gedanken wieder ins Bewusstsein rief. Und so wie Asaf ging es vielen Menschen: Immer wieder wurden sie durch die veränderten Verhältnisse gezwungen, sich neu zu orientieren. Immer wieder mussten sie für sich die Frage beantworten: Bin ich noch mit Gott verbunden, auch wenn ich sein Handeln jetzt nicht verstehe? Gehört mein Herz noch immer ihm?
Könnte es auch sein, dass unser Vater im Himmel uns von Zeit zu Zeit fühlen lassen möchte, dass seine Nähe zu uns keine Selbstverständlichkeit ist? Oder könnte es sein, dass er uns auch auf ein bestimmtes Verhalten aufmerksam machen möchte, das ihm nicht gefällt, dass er etwas sieht, was uns nicht bewusst wird und wovor er uns warnen will? Es mag verschiedene Gründe dafür geben, dass Gott sich von uns für einen Augenblick fernhält, aber immer sollte es wachrütteln und zum Nachdenken bringen. Niemals sollte mein Vertrauen in den heiligen Gott schwächer werden!
Ich bin mir sicher, dass mein zeitweiliges Schweigen von Gott verstanden wird. Denn ich darf den Text aus Römer 8:26-28 auch auf mich anwenden:
Da fällt mir noch ein, dass Jesus in seinem Sterben aus dem 22. Psalm zitiert hat: “Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? Warum bist du so weit weg?” Das war ihm also auch nicht unbekannt geblieben, obwohl er keinen Grund hatte, sich als Sünder zu empfinden und er Gottes Größe doch erfassen konnte. Aber in der Stunde seines Todes musste er wohl ganz allein sein, um zu beweisen, dass er seinem Vater auch unter der äußersten Verlassenheit treu bleiben wollte. Vielleicht sollte man auch daran denken, wenn man anerkennend vom Opfer Jesu spricht. Dieses schrecklichste aller Gefühle hat er ertragen, weil er Gott ohne jeden Vorbehalt vertraute! Das macht Jesus in meinen Augen ganz groß und bewundernswert vorbildlich.
„In gleicher Weise nimmt sich Gott unsrer Schwachheit an,
denn wir wissen nicht, wie man richtig beten soll.
Er tritt mit einem Seufzen für uns ein,
das man nicht in Worte fassen kann.
Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was der Geist damit sagen will,
denn der Geist tritt für die Heiligen so ein,
wie es vor Gott angebracht ist.”