Ich liebe das Meer – und ich fürchte es auch. Ich liebe das Gebirge – und ich fürchte es auch. Und so könnte ich fortfahren und viele Werke des Schöpfers aufzählen, die heute, wo ich ein alter Mann geworden bin, ein zwiespältiges Gefühl im Hinblick auf den Schöpfer wecken: Einerseits liebe ich Gott und andererseits fürchte ich ihn. Wie passt das zusammen? Im ersten Gebot, das Jesus Christus für das wesentlichste hielt, heißt es, dass ein Mensch Gott mit ganzer Seele und ganzer Kraft lieben soll. Und dann ist mir auch klar, dass ich Gott auch fürchten muss, denn mit der Gottesfurcht beginnt gemäß der Bibel das Erkennen Gottes und die Weisheit.
Ich fürchte also Gott und ich fürchte auch Naturgewalten. Wo ist der Unterschied in der Furcht? Ein Sturm, ein Bergsturz oder ein Erdbeben nehmen auf nichts und niemanden Rücksicht. Blind und zerstörend wirken sie, ohne Rücksicht auf den Menschen zu nehmen. Im Gegensatz dazu ist Gottes Wirken nicht blind. Denn im Handeln Gottes mit dem Menschen ist die Liebe des himmlischen Vaters zu erkennen. Hier stehen sich Mensch und Schöpfer gegenüber: der Vater und sein Kind. Und dieses Verhältnis soll für den Menschen auch mit Respekt verbunden sein, wie es einem Vater gebührt.
Nimmt man die Summe der biblischen Aussagen zum Thema Respekt, dann erkennt man deutlich, dass mit Respekt oder Gottesfurcht die tiefe Beziehung zwischen Gott und Mensch erst beginnt, ja, dass Respekt die Voraussetzung für diese Beziehung ist und sie regelt. Im Text aus dem Buch “Sprüche” im zweiten Kapitel, Verse 1 bis 11 wird der Mensch aufgefordert, Weisheit zu suchen, um Gott zu erkennen und die Gottesfurcht zu begreifen. Denn Gott gibt Weisheit, Verständnis und EINSICHT. Dadurch öffnet er das Bewusstsein des Menschen für das gewaltige Wunder des Lebens. Und damit lässt er den Menschen begreifen, dass daraus das Glück wächst. Im zweiten Kapitel der “Sprüche” kommt deutlich Gottes Wunsch zum Ausdruck: Seine Gerechtigkeit soll den inneren Menschen beherrschen, denn das ist das eigentliche Leben! Und noch etwas hat sich in meinen Gedanken verfestigt: Ich weiß, dass mein Vater im Himmel mein Leben ist! Und ohne Achtung, Respekt und Liebe kann ich nicht mit ihm verbunden sein!
Respekt: Eine Metapher
Man trägt eine kostbare Vase, die unersetzlich ist. Wie würde man diese Vase tragen? Man braucht nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass man äußerst vorsichtig und behutsam mit dieser Kostbarkeit umgehen muss. Man wird sich des hohen Wertes bewusst und wird das Gefäß vorsichtig, achtsam und vorausschauend tragen. Mit diesem Bild wurde in einem biblischen Wörterbuch die Gottesfurcht oder der Respekt vor Gott beschrieben. So sollte man mit dem Höchsten umgehen, so sollte man ihm begegnen!
Im Gegensatz dazu ist es bei manchen Leuten üblich geworden, den allmächtigen und ewigen Herrscher, den unbeschreibbaren und unfassbaren Gott auf die Stufe eines privaten Kumpels herabzuziehen. Dadurch wird er als Dienstbote, als Wunscherfüller, als Unterstützer für private Geschäfte missbraucht. Das ist dann im Ergebnis Gotteslästerung.
Wie lernt man Gottesfurcht?
“Ja, wenn du um Verstand betest und um Einsicht flehst,
wenn du sie suchst wie Silber, ihnen nachspürst wie einem wertvollen Schatz,
dann wirst du die Ehrfurcht begreifen, die man vor Gott haben muss,
und wirst anfangen, Gott zu erkennen.“ (Spr. 2:3-5)
Die Gottesfurcht ist also das Ergebnis eines Denkprozesses: Er wird angestoßen durch die Sehnsucht nach Gott und beginnt mit der Einsicht, dass man Gott braucht und dass ein sinnvolles, zielführendes Leben nur dann möglich ist, wenn Gott uns anleitet und unser gutes Streben fördert. Die Bibel benutzt auch die Formel, dass “Gott das Herz berührt”. Damit ist gemeint, dass herzliche, liebevolle Gefühle zu fließen beginnen. In diesem Prozess der Bewusstwerdung Gottes und dem Entstehen der Ehrfurcht vor ihm spielen also auch die Gefühle eine Rolle. Es ist der ganze Mensch eingebunden. So ist Gottesfurcht keine verstandesmäßige Fleißaufgabe, die durch Rituale ausgedrückt wird. Es ist eine Sache des inneren Menschen, eine Angelegenheit des Herzens und Ausdruck eines sinnvollen Lebens.
Es gab und gibt immer wieder Menschen, die nach einer Irrfahrt im Leben plötzlich bemerkten, dass ihnen etwas Wichtiges fehlte. Entweder tauchte die Frage nach dem Sinn des Lebens auf oder sie stellten fest, dass sie vergessen oder verlernt hatten zu lieben. Dann kann es sein, dass man nach Gott fragt und ihn im Sinne der Aufforderung im Buch der Sprüche um Verständnis und Einsicht bittet. Ist dieses Verlangen ehrlich gemeint, dann wird Gott es stillen. Und dann kann es sein, dass Gott uns als Kind annimmt, als ein Kind, das in Ehrfurcht vor ihm steht.