Asche und Staub

Jesus: “Ja, ich versichere euch: Wer auf meine Botschaft hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben.  Auf ihn kommt keine Verurteilung mehr zu; er hat den Schritt vom Tod zum Leben schon hinter sich.” Johannes 5:21, 22

Weil ich das richtige Leben liebe, denke ich über den Tod nach.

Ich stehe nun am Strom der Zeit und warte auf den Fährmann. Ich sehe sein Boot noch nicht, aber ich weiß bestimmt, dass er kommt. Er wird mich nicht verfehlen und mich an das jenseitige Ufer bringen. Zwischen Hoffnung und Zuversicht mischt sich ein Gefühl, das man im Herbst des Lebens hat: Es ist leises Abschiednehmen und wehmütiges Zurückschauen, an das mich ein Gedicht  erinnert:

Wenn im Herbst die Nebel fallen

Und man zwischen Gräbern geht,

Werden Regentropfen Tränen,

Tränen, die der Wind verweht.

Denn das gern gelebte Leben –

wie ein Traum schwebt es dahin.

Leben, das ist Abschiednehmen!

Und ich weiß nicht, wer ich bin.

Und während ich gedankenverloren über den breiten Strom schaue und das andere Ufer sehe, habe ich noch Zeit, um nachzudenken. In Gedanken besuche ich alte Friedhöfe, was ich immer gern gemacht habe. Wer Friedhöfe besucht, will sich ganz bewusst an die eigene Vergänglichkeit erinnern; er will sich das ins Bewusstsein rufen und wahrnehmen, woran mich ein russisch-orthodoxer Diakon auf dem Friedhof neben der griechischen Kapelle auf dem Wiesbadener Neroberg  erinnern wollte, als er mir beim Abschied überdeutlich sagte: “Wir sind nur Staub und Asche!”. Ich hatte nach dem Grund gefragt, warum es keinen Blumenschmuck auf den Gräbern gab.

Es war Herbst, als ich am verschlossenen Gitter des Friedhofs stand. Ich sah einen Diakon dort arbeiten und fragte ihn, ob ich den Friedhof besuchen dürfte. Zuerst zögerte er, doch dann kam er zum Tor und schloss es auf. Ich ging langsam durch die Grabreihen und las die Namen hochgestellter Persönlichkeiten mit ihren pompösen Titeln aus allen Bereichen des russischen Lebens vor der Oktoberrevolution.  Welch einen Glanz haben sie repräsentiert, als sie noch im Zarenreich lebten und sich in Wiesbaden vergnügten! Jetzt waren sie schon lange vermodert und Unkraut wuchs zwischen und auf den Gräbern. Es wurden hier auch viele Exilanten bestattet, Strandgut einer bösen Zeit, als sie nicht mehr in Russland bleiben konnten. Am Grab  von Alexej v. Jawlensky bleibe ich länger stehen und sehe vor mir die farbstarken, eindrucksvollen Bilder dieses expressionistischen Malers, der 1941 nach einem chaotischen Leben in Wiesbaden  gestorben ist. Alles vorbei! Wir sind Staub und Asche!

Ich muss an das Gebet Moses im Psalm 90 denken, das die Flüchtigkeit des Menschen beschreibt:

“Du schwemmst sie hinweg, es ist wie ein Schlaf, und am Morgen sprießen sie auf wie das Gras. Am Morgen blüht und wächst es auf, am Abend ist es welk und verdorrt.” 

Die sehr alten Buchen auf dem Neroberg hatten sonnengelbes Herbstlaub und die dicken Stämme schimmerten wie alte, mit Grünspan überzogene Bronzesäulen. Diese alten Bäume schienen vom Vergehen der Zeit unbeeindruckt zu sein. Rundherum spielte die Herbstsinfonie des Lebens, und die todesmatten, goldgelben Blätter fielen langsam zu Boden. “Wie Blätter fallen wir langsam vom Baum des Lebens herab!”.  Mit diesem Gedanken ging ich zu meiner kleinen Frau, die im Restaurant auf mich wartete. Ich blicke noch einmal zurück und sehe die goldene Kuppel der griechischen Kapelle vor dem stahlblauen Himmel zwischen den herbstlichen Bäumen durchschimmern.

Wieder denke ich an das Gebet Moses: “Dein Zorn lässt unsre Tage verrinnen, lässt unsere Jahre wie ein Seufzer vergehen. Unser Leben dauert nur siebzig Jahre, achtzig, wenn es voll Kraft war. Und das meiste davon war Mühe und Last. Schnell geht es vorbei, und schon fliegt es davon. Wer kennt denn die Macht deines furchtbaren Zorns, wer nimmt sich das wirklich zu Herzen?” 

Die Juden beteten und sangen den Psalm 90 und dachten dabei an sich. Wie viele haben es ernst gemeint bei den Worten: “Kehre zurück, Jehowah! Wie lange dauert es noch? Hab doch Erbarmen mit uns, deinen Dienern. Mache uns schon am Morgen mit deiner Gnade satt, dann sind unsere Tage von Freude und Jubel erfüllt.” Und wer es ernst meinte, hat auch diese Bitte mit aller Aufrichtigkeit des Herzens gesprochen und dabei die Tragik des eigenen Lebens empfunden: “So lehre uns doch unsere Tage zu zählen, damit Weisheit in unser Herz einzieht.” 

Der alte jüdische Friedhof in der Prager Josefstadt kommt mir in den Sinn. Hier wurden bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts  schätzungsweise  60 Tausend Menschen auf engstem Raum und in mehreren Schichten übereinander begraben. 12000 Grabsteine stehen dicht an dicht, schief, halb eingesunken in die Erde, aneinander gelehnt. Kein Blumenschmuck ist zu sehen. Es ist wieder Herbst und die Blätter lösen sich und sinken sacht auf die Gräber herab. 

“Haus des Lebens” hieß dieser Friedhof – “Beth chaim”. Allgemein wurde er “Der gute Ort” genannt, denn die Juden glaubten an eine “Auferstehung am letzten Tage”. Dieser gute Ort bedeutet für sie Erlösung, denn es gab endlich Ruhe für geschundene Seelen. Ich kann nur erahnen, welche Tragödien unter den Grabsteinen begraben worden sind. Viele sind durch die ganze Welt gejagt worden, waren  nirgendwo zu Hause, fanden kaum Zuflucht und verschwanden beinahe spurlos. Sie haben Progrome und Entrechtungen erlitten, haben Hass, Verfolgung und Ablehnung erfahren und hofften nach all diesen Qualen auf die Ruhe im “guten Ort” und auf die Auferstehung.

Im Judentum gibt es den Spruch, dass, wenn ein Mensch stirbt, eine ganze Welt gestorben ist. Mir gefällt diese Weisheit, denn sie bringt etwas zum Ausdruck, was heute beinahe vergessen ist: Jeder Mensch ist einmalig! Und sein Bewusstsein ist so gewaltig, dass die mögliche Zahl seiner Bewusstseinszustände die Zahl der Atome im Universum übersteigen kann. Was kann ein Mensch alles denken und fühlen? Ein Kosmos im Kopf, im Guten wie im Bösen! 

Wie viel Lachen und Leid, wie viel Liebe und Hass, welcher Strom von Tränen, wie viel Lebensfreude und Kummer sind hier begraben worden? Und mit diesen Menschen wurden ganze Welten mit allen guten und bösen Taten begraben. Welche Hoffnungen starben mit ihnen und wie viele Enttäuschungen bedeckte dieser Boden? Und nichts ist geblieben, als ein paar graue verwitterte Steine mit verwischten Namen, an die sich heute niemand mehr erinnert. 

“Es ist besser, in das Haus der Trauer zu gehen, als zu einem Festmahl. Denn das macht das Herz besser.”  So drückt es der Kohelet Salomo aus. Und was machen diese Worte mit mir? Macht diese Mahnung mich besser? Wenn ich über vierzig Jahre zurückblicke, kann ich an meinen Tagebüchern feststellen, dass mich der Tod schon immer beschäftigt hat. Dadurch ist mir vieles, was ich früher wichtig nahm, mit der Zeit unbedeutend und nichtig geworden. Meine typische Altersgeste ist das Abwinken mit der Hand. Das soll heißen: “Nimm es nicht so wichtig, wie es daherkommt!” Was macht der Mensch für ein Geschrei um sein Dasein, wie bläst er sich auf und nimmt sich wichtig! Und doch  nützt es nichts. Ich muss hier an Jakobus denken, der denen, die auf sich selbst vertrauen und meinen, alles erreichen zu können und jeden Tag einen neuen Höhepunkt zu erleben, dies sagte: 

“Nun zu euch, die ihr sagt: ‘Heute oder morgen wollen wir in die und die Stadt ziehen. Wir werden ein Jahr dort bleiben, Geschäfte machen und Geld verdienen’. Und ihr wisst doch nicht einmal, was morgen sein wird. Was ist denn euer Leben? Nur ein Dampf, der kurze Zeit sichtbar ist und dann verschwindet.” (Jak. 4:13, 14) 

Das will ich mir zu Herzen nehmen, wenn ich an meine Vergänglichkeit denke und über Friedhöfe gehe. Jakobus schrieb: “Fühlt euer Elend, trauert und weint! Euer Lachen soll sich in Trauer verwandeln und eure Freude in Kummer”. Und ich fühle mein Elend, das in der Tatsache begründet ist, dass ich ein Sünder bin, ein Sünder, der Barmherzigkeit braucht. Ich bin, wie alle anderen auch, der Nichtigkeit ausgeliefert und wünsche nichts sehnlicher, als mit Gott in Frieden zu leben. Darum will ich mich unter die mächtige Hand Gottes beugen und lernen, ‘meine Tage zu zählen’, damit das ‘Herz besser’ wird. — So ungefähr sind meine Wünsche, wenn ich auf Friedhöfen spazieren gehe und die Wahrzeichen der Vergänglichkeit betrachte. Es macht das Herz besser! 

Noch stehe ich am Ufer und kann ‘Weisheit in mein Herz‘ einziehen lassen, während ich  auf den Fährmann warte. Ich habe beschlossen, keine Furcht zu haben, wenn er kommt und mich einlädt, ins Boot zu steigen. Er wird mir die Hand reichen und beim Einsteigen helfen. Und während ich einsteige, will ich wissen, dass er mich auf die andere Seite des Flusses bringt. Kein Geringerer als Jesus hat das ewige Leben verheißen! Er löst ein, was unser Vater im Himmel von Anfang an gesagt hat: “Der Gerechte wird durch Glauben leben!” Ich fühle mich nicht als Gerechter, aber wir werden so gesehen, wenn wir der Botschaft Jesu vertrauen und danach streben, so zu leben, wie Gott es wünscht.

Ich blicke auf mein Leben zurück und sehe meine kleinen Freuden, meine Kämpfe, meine Niederlagen, meine Sünden. Und ich sehe mein größtes Glück, weil  ich Gott gefunden habe und eine Geborgenheit fühle, die ich mir früher nicht vorstellen konnte. Diese Geborgenheit unter der “mächtigen Hand Gottes” schenkt mir Frieden und Gelassenheit, denn ich weiß, dass für  mich gesorgt wird! Alle Sorgen, die ich mir machen könnte, verblassen, denn ich weiß, dass auch ich einen Platz zu Füßen Gottes gefunden habe, weil ich Frieden mit ihm geschlossen habe. Darum blicke ich versöhnlich und ohne Groll zurück; ich habe allen Menschen vergeben und wünsche mir für alle, die es wollen, ebenfalls den tiefen Frieden mit Gott.

Mit dieser Position kann ich ruhig abwarten und sehen, was noch alles geschehen kann. Es wird nichts Neues geben, dafür aber von allem Übel bis zum Übermaß genug. Zu bedauern ist jeder, der von seiner Zukunftsangst in die Verzweiflung oder in den Wahnsinn getrieben wird.  Diese Welt bietet für die Menschen keinen Platz, die tatsächlich als Menschen leben wollen, nämlich unter Frieden, Gerechtigkeit und in Harmonie mit Gott. Der einzige Platz für sie ist tatsächlich unter “Gottes mächtiger Hand” (1. Pe. 5:6, 7; Phil. 4:6, 7) Nur von dort können sie dem Untergang zuschauen und auf Gottes Reich warten.

Am jenseitigen Ufer sehe ich schon den neuen Anfang meines Lebens oder die Fortsetzung desselben nach der Auferstehung. Es ist die Erfüllung meiner Hoffnung, die mit der Zeit  zur Gewissheit geworden ist. Jenseits des Flusses sehe ich am Horizont das messianische Morgenrot aufleuchten. Und ich weiß: Das Reich Gottes erwartet mich! Da wird mein Herz weit und Freude zieht ein. Ich juble meinem Vater im Himmel zu und bin nur noch dankbar, weil er so gut zu seinen Kindern ist! “Aus allen Drangsalen  rettet er dich!”, heißt es in den Psalmen. Und fast am Schluss der Bibel stehen die Worte Gottes: “Siehe! Ich mache alles neu!” Welch ein gewaltiger Trost!

Veröffentlicht von Tilo

Ein alter Mann, der lange Zeit ein Zeuge Jehovas war und dieser Kirche aus Gewissensgründen den Rücken kehrte. Heute stehe ich allen Kirchen misstrauisch gegenüber, denn glauben kann man nur allein. (amenuensor@aol.com)

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